Realistische Magie

Marion Braschs zauberhafter Sommerroman »Wunderlich fährt nach Norden«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer an einem dieser lauen Sommerabende Marion Braschs neuen Roman in die Hände bekommt, womöglich kurz vor dem Sonnenuntergang am Ostseestrand oder im Dämmerlicht eines nachtschattigen Gartens, der wird sich wundern. Beim Lesen geschieht es nämlich, dass der Sommer da draußen in den Sommer des Buches fließt. Und ehe man es sich versehen hat, träumt man sich selbst hinein in diese gewittrige Geschichte, die einen einsamen Taugenichts aus der Stadt sanft ins ländliche Unterwegssein stößt. Stillstand, das ist der Tod. Bewegung aber, und sei es ins Ungewisse, verspricht Begegnung. Es sind liebenswerte Gestalten, Gestrandete, Verrückte und Verstoßene, die Braschs Romanheld auf seiner Reise ins Herz schließen wird.

»Wunderlich fährt nach Norden« ist so leicht und so beschwerlich, so heiter und so melancholisch wie Wolfgang Herrndorfs »Tschick«. Nur sind es bei Brasch nicht zwei ferienmüde, liebesbekümmerte Jungs, die sich im geklauten Lada Niva auf den Weg in die »Walachei« machen, sondern ein antriebsloser Herr um die 40, der, von der Liebe verlassen, in den Zug steigt, um mit abgelaufenem Ausweis nach »Norden« zu reisen. Das Ziel ist vage, hier wie dort, und eigentlich spielt es gar keine Rolle. Man flieht die Decke, die einem auf den Kopf stürzen will und stürzt sich stattdessen selbst - in eine Suche. Wohin sie führt, das findet sich dann scheinbar ganz von allein.

Marion Brasch hat erst im vergangenen Jahr ihr literarisches Debüt vorgelegt: Im autobiografischen Roman »Ab jetzt ist Ruhe« rollte die Tochter des DDR-Kulturfunktionärs Horst und die jüngste Schwester der unangepassten Künstler Klaus, Peter und Thomas Brasch die Tragödie ihrer Familie aus der Perspektive des fügsamen Nesthäkchens auf: die Geschichtslast eines ganzen Jahrhunderts, sanft abgefedert durch den weichen, fast kindlichen Blick der einzig Übriggebliebenen. Wer Marion Brasch aus dem Radio kennt - sie begann bei DT64 und moderiert heute auf radioeins -, der kennt sie als Stimme, die mit keiner anderen zu verwechseln ist. So natürlich, so offen und sympathisch hört sich im Rundfunk sonst keine an; ein wenig fragend stets, tonvoll lächelnd, den Hörern aufgeschlossen und zugeneigt. Ganz ähnlich klingt der Sound ihres Wunderlich-Romans, der nun nichts belastend Biografischem mehr verpflichtet ist, vor dem inneren Ohr des Lesers.

Bei Wunderlich, der Name sagt es, geht es nicht immer mit rechten Dingen zu. Während der frisch Verlassene noch in einer Nebelwolke aus Selbstmitleid auf dem Dach seines Hauses sitzt, brummt in der Hosentasche das Telefon. »Guck nach vorn«, befiehlt eine SMS von »Anonym«. Aber wer ist das? »Anonym« meldet sich fortan immer dann bei Wunderlich, wenn der es am wenigsten zu brauchen meint: eine treibende Stimme, die bei anderen aus dem Inneren kommt. Bei Wunderlich wohnt sie im Handy. Sie nicht ernst zu nehmen, ist schwer, denn »Anonym«, so scheint es, weiß alles. Nicht nur Wunderlichs eigene Gedanken kennt er (oder sie?) genau, auch über die Biografien - einschließlich die noch im Künftigen liegenden, oft tragischen Schicksale - der Menschen, denen der SMS-Empfänger begegnet, weiß »Anonym« bescheid.

So realistisch Marion Brasch von Wunderlichs Reise berichtet, so zauberhaft sind einige Begebenheiten, die ihm widerfahren. Man kennt das aus Romanen von Thomas Glavinic, in denen nicht selten Magisches psychische Abgründe in den vermeintlichen Alltag reißt. Bei Brasch geht das weniger bedrohlich zu: Nur weil der Boden wankt, droht noch lange kein tiefer Fall. So steigt Wunderlich an einem verwilderten Bahnhof aus, an dem schon seit Jahren kein Zug mehr gehalten haben soll, wie man ihm glaubhaft versichert. So begegnet er unwahrscheinlichen Gestalten, verwickelt sich in deren Geschichten mit einer Courage, die er sich selbst gar nicht zugetraut hätte, und gewinnt sie lieb - doch am Ende will man ihm weismachen, dass es diese Menschen gar nicht gibt, nie gegeben hat. So zieht er sich binnen eines Tages mehr Verletzungen zu als zuvor wohl im ganzen Leben - nur, um des Nachts an einem Apfelbaum jenes schimmernde »Blauharz« zu entdecken, dem die Fähigkeit nachgesagt wird, jede Wunde zu heilen. Der Preis für dieses Wunder aber ist hoch: Der Geheilte verliert seine Erinnerung an die Ursache seiner Verletzung.

Am Ende der Reise sitzt Wunderlich wieder auf seinem Dach - und ist, dank des Erlebten, ein Anderer. Aber war er denn überhaupt fort? Man schlägt das Buch zu, es graut schon der Morgen. Und ob er fort war. So weit wie man selbst, so wunderlich weit.

Marion Brasch: Wunderlich fährt nach Norden. Roman. S. Fischer, 288 S., geb., 19,99 €.

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