Sich verschließen, sich sehnen
Judith Hermann: »Aller Liebe Anfang« - ein seltsamer Titel für ein eindringliches Buch
Kommt einem der Buchtitel nicht bekannt vor? »Aller Liebe Anfang« - so hieß doch ein Band mit erotischen Fotografien von Anja Müller. 1972 gab es auch mal einen DDR-Fernsehfilm dieses Namens. Judith Hermann ist 1970 in Westberlin geboren; sie wird ihn kaum kennen. Aber vielleicht das schöne Gedicht von Eva Strittmatter »Anfang der Liebe« über das Älterwerden und den Wunsch, die Gefühle der Jugend festzuhalten, das sich zum Schluss zu einer Apotheose reifer Zweisamkeit aufschwingt. »Erst wenn man weiß, dass sie enden kann, hat man den Anfang der Liebe erreicht.« Ob Stella und Jason in diesem Roman wohl je so einen Anfang erleben werden?
Einen allzu bedeutungsschwangeren Buchtitel hat Judith Hermann gewählt, aber einen, der locker von der Zunge geht. Selbst zu Agatha Christie hätte er gepasst. Man möchte gern wissen, was denn hier »aller Liebe Anfang« sein soll. Einsamkeit und Begehren? Stella hatte Flugangst, deshalb hatte sie sich neben Jason gesetzt und seine Hand genommen. Sie brauchte ihn in diesem Moment, darin wurzelte dann ihre Ehe. Dass es auch später so war, sie zweifelte nicht daran, aber sie hatte es nur kurzzeitig fühlen können. Und er wohl ebenso. Er ist Fliesenleger, arbeitet auswärts auf Baustellen. Immer nur wenige Tage können sie in ihrem Haus zusammen sein, aber da verkriecht er sich auch manchmal in sein Zimmer.
Dass ihre literarischen Gestalten fern aller Brotarbeit sinnierten, das hat man jungen deutschen Autorinnen und Autoren bisweilen vorgeworfen. Einen Fliesenleger hat man auch lange nicht in einem Roman gesehen. Dazu eine Altenpflegerin, deren Tätigkeiten genau beschrieben werden, die sehr fürsorglich zu ihren Patienten ist und ihnen so viel Zeit widmen kann - sogar Erdbeeren waschen, Blumen arrangieren, miteinander Kaffee trinken, reden, ohne auf die Uhr zu schauen -, dass es sich kaum um eine Kassenleistung handeln dürfte. Aber es ist so, wie man sich Altenpflege wünschen würde: als Miteinander. Die freundliche junge Frau profitiert auch von den Erfahrungen der Alten. In deren Gelassenheit setzt die Autorin einen Kontrast zu den Aufregungen, um die sich beinahe alles im Buch dreht.
Wenn Stella ihr Rad nach Hause schiebt, holt sie vorher noch Ava vom Kindergarten ab. Wunderbar ist Judith Hermann - sie hat inzwischen einen 14-jährigen Sohn - das unbekümmerte Plappern des kleinen Mädchens gelungen, ihre Aufgeschlossenheit und ihre Selbstvergessenheit beim Spiel. Dieses In-Sich-Ruhen - irgendwann verliert es sich beim Heranwachsen und kehrt erst, wenn man sehr viel Glück hat, im hohen Alter wieder. Ava ist im Buch das Lichtfünkchen, während sich über der Familie etwas Dunkles zusammenbraut.
Der Ort: eine dörfliche Siedlung in der Nähe zur Großstadt. Man grüßt einander, aber es ist nicht so, dass jeder jeden kennen würde. Früher mag das anders gewesen sein, heute ist es das Übliche, dass alle nach ihrer Arbeit in ihren Häusern verschwinden. Ohnehin bleibt fürs Persönliche zu wenig Zeit. Von Stella erfahren wir schon am Anfang: Sie ist gern allein (das könnte sie mit der Autorin gemeinsam haben). Kurze Sätze im Präsens gelten ihren Verrichtungen. Die werden schon auf Seite 22 - die Frau ist gerade beim Abwasch - durch ein Klingeln unterbrochen. Ein junger Mann, eigentlich ganz ansehnlich, äußert durch die Sprechanlage den Wunsch, sich mal mit ihr zu unterhalten. Was wäre geschehen, wenn sie die Tür geöffnet hätte?
Wir werden es nicht erfahren. Wenn der Mann auch täglich klingelt und mitunter irgendwelche Zettel in den Briefkasten steckt, Stella beobachtet ihn, im Haus verborgen, und ist zunehmend verstört. Jason, dem sie davon erzählt, scheint für einen Moment sogar von ihr abzurücken. Eifersucht, Zorn, Resignation, als ob er seiner Frau noch nie ganz vertraut hätte. Und verbirgt sich bei Stella hinter der Hilflosigkeit nicht doch noch etwas ganz anders Beunruhigendes? Neugier? Sehnsucht nach einem anderen Leben?
Wohin wird die Geschichte kippen? Es war Judith Hermanns Kunst schon immer, in klarer, rhythmischer Sprache etwas genau zu benennen und dabei irgendwie in der Schwebe zu lassen. Aber warum sie den rätselhaften Mann ausgerechnet Mr. Pfister nennt - nach der Gestalt aus einer Fernsehserie? Will sie ihn der Wirklichkeit entrücken? Stellas Erfindung? Nein, so ist es nicht, er ist kein »verdammtes Gespenst«, sondern ganz real. Da hätte man auch real reagieren können, aber in diesem Fall wäre die Handlung ins Banale gekippt und hätte nicht ausgedrückt, was der Autorin vorschwebte.
Ein Spiegelkabinett: Mr. Pfister bildet womöglich nur das Extrem dessen ab, was allen Gestalten dieses Buches - bis auf Ava - eigen ist. Sie sehnen sich nach einem Miteinander und müssen sich doch voreinander verschließen. Jeder Mensch seine eigene Welt - das ist im Grunde etwas ganz Normales, zumal für Leute, die geistig tätig sind, aber Judith Hermann ist sich der Problematik nur allzu bewusst.
Diese Zweifel, die einen ständig begleiten, ob es »richtig« ist, so wie man lebt, diese Ängste, dass sich plötzlich ein Abgrund auftun könnte, in dem alles Glück verschwindet. Warum kann man nicht im Augenblick leben, warum muss einem die Vorstellungskraft immer wieder alles vergällen? Schattenseite von Sensibilität: das gefühlte Wissen, auf welch brüchigem Boden man sich bewegt. Es wird nicht verschwinden, auch wenn Judith Hermann sich und dem Leser schließlich gönnt, dass der Stalking-Spuk für Stella ein Ende hat. Das gelingt hier nur durch Gewalt. Befreiung von der Angst-Last? Man müsste naiv sein zu glauben, dass könnte für immer sein.
Eine kleine, eindringliche Szene im Buch: Ava möchte, dass die Mutter ihr die Geschichte von der Giraffe und dem kleinen Prinzen erzählt, was Stella im Augenblick - kommt ja vor - ziemlich widerstrebt. Aber: »Sie versucht es, aus Furcht vor dem Gedanken, sie könnte, Jahre später bereuen, Ava nicht die Geschichte … erzählt zu haben ... Diese Reue begleitet Stella immer …«
Das trifft. Damit sind wir in der Tiefe des Textes angelangt, in dem sich noch etwas ganz anderes abspielt, was nur die Autorin weiß. Aus dieser Tiefe heraus kommt am Schluss auch eine Aussage, die zugleich ihr Gegenteil in sich trägt: »Vielleicht ist es doch so, dass die Gegenwart zählt, ihr leichtes, unwiderstehliches Ge-wicht … Veränderung ist kein Verrat, und wenn doch, dann wird er nicht bestraft.«
Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. Roman. S. Fischer Verlag. 219 S., geb., 19,99 €.
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