Lieber Literatenstadl als «Tatort»
Die «Reformbühne Heim & Welt», dienstälteste Lesebühne, zieht zur 1000. Vorstellung um
«Unser Publikum wird sich freuen, dass jeder auf einem schönen Stuhl sitzen kann und dass die Toiletten sehr gepflegt sind.» Jakob Hein, 42 Jahre alt, von Beruf Schriftsteller und Arzt, gibt sich zuversichtlich, was die Zukunft der Reformbühne Heim & Welt angeht, der er nun seit 1998 angehört. «Im ›Kaffee Burger‹, wo wir seit dem Jahr 2000 vorlesen, hatten wir ja Bierbänke. Auch dass die Leute stehen müssen, werden wir künftig sicherlich vermeiden können.»
Eine der dienstältesten Lesebühnen Berlins zieht um, pünktlich zu ihrer 1000. Lesung. «Der Anlass ist auch der, dass unser Publikum mit uns altert. Als wir 20 waren, waren die auch ungefähr 20. Jetzt sind wir alle sechs mindestens 40, und unser Publikum eben auch. Den ersten Besuch beim Orthopäden haben wir jetzt alle schon hinter uns», erläutert Hein. «Da ist so ein Stuhl doch gleich viel bequemer als eine Bierbank.»
Seit 1995, also seit beinahe 20 Jahren, werden eisern jeden Sonntagabend von einer kleinen Bühne herab Texte vorgelesen, selbstverfasste Glossen, Alltagsgeschichten, zumeist Komisches. Und am Ende des Auftritts wird obendrein gesungen. Oder auch mal zwischendurch. Sollte man also besser «Show» statt «Lesung» sagen? Oder «Leseshow», «Schaulesung»? Die Performance bewege sich «irgendwo zwischen Kabarett, Klamauk und Literaten-Stadl», hieß es in der «Süddeutschen Zeitung» vor einigen Jahren. Die «Reformbühne» war bislang weder ein Ort, an dem steife Gramfiguren würdevoll blickend über einem Typoskript gebeugt saßen und eitel gedrechselte Verse rezitierten, noch ein Ort des bloßen Klamauks. Die komischen, manchmal auch traurigen Geschichten, die zum Vortrag kommen, werden mit großem Gespür für das richtige Timing und das präzise Setzen der Pointen vorgelesen.
«Wir sind unaufwendig», stellt Jakob Hein fest. Requisiten seien überflüssig. «Wir stellen uns hin und lesen unsere Texte vor. Und die Musiker bringen ihre Instrumente mit.» Der Eintritt beträgt nur ein paar Euro. Jeder Interessierte soll sich den Abend leisten können. Leben können die Vorleser von ihren allsonntäglichen Auftritten natürlich nicht. Vielmehr werde aus «Spaß und Tradition» vorgelesen. «Und weil die Leseabende uns alle zu Dingen inspirieren, aus denen dann später Bücher werden. Ahnes ›Zwiegespräche mit Gott‹ sind ja hier entstanden, bei der Reformbühne», teilt Hein mit. «Aber wirtschaftlich ist das ein vollkommen ruinöses Unterfangen. Wir haben ja nie Fördergeld bekommen.» Dennoch bereite es mehr Vergnügen, für kleines Honorar «vor voller Hütte» aufzutreten, als irgendwo, «wo man zwar ein gutes Honorar bekommt, aber nur acht Gäste da waren, die sich gepflegt gelangweilt haben». Was man tue, tue man, weil man es gern tue. «Die Bühne muss ja vor allen Dingen uns Spaß machen. Aber wenn natürlich wenig Publikum da ist, etwa während der Fußball-WM, liest man vor vier, fünf Leuten etwas vor, woran man vielleicht eine ganze Woche lang gearbeitet hat. Da drängt sich dann schon uns allen die Sinnfrage auf.»
Von der Urbesetzung sind heute noch Jürgen Witte dabei und der Schriftsteller Falko Hennig. Wie er veröffentlichen die meisten Reformbühnler ihre Erzählungen und anderen Texte seit Jahren in Zeitungen und Büchern: Ahne war wiederholt als Kolumnist fürs «nd» tätig, zuletzt während der diesjährigen Fußball-WM. Heiko Werning ist Reptilienforscher und schreibt für «Taz», «Titanic», «Jungle World» und «nd». Auch Uli Hannemann ist «Taz»-Kolumnist und hat sein Lieblingsthema, den Neuköllner Alltagsirrsinn, in mehreren Büchern verarbeitet, vor kurzem in einem Roman. Das prominenteste ehemalige Mitglied der Berliner Lesebühne dürfte der Schriftsteller Wladimir Kaminer sein, der dem Ensemble von 1999 bis 2003 angehörte.
Am vergangenen Sonntag feierten die Vorleser, die in den Anfangsjahren noch im linken Café «Schoko-Laden» ihre wochenaktuellen und satirischen Texte vortrugen, im schummrigen Ostberliner Traditionslokal «Kaffee Burger» ihre 999. Vorstellung. Dort musste das Publikum - wenigstens jene, die keinen Kneipenstuhl mehr ergattern konnten - oft auf mehr oder weniger zerkratzten Bierbänken Platz nehmen. Nicht selten saß man dicht gedrängt, wenn der Laden voll war, oder musste stehend den Abend verfolgen. Doch damit wird voraussichtlich bald Schluss sein. «Die alten Besitzer des ›Kaffee Burger‹, Karl und Uwe, haben jetzt auch das Lokal verkauft. Die sind jetzt raus und wir sind jetzt raus, das passt dann», sagt Jakob Hein.
Vom Rosa-Luxemburg-Platz wird die Lesebühne ihre Wirkungsstätte an den Strausberger Platz 1 verlegen, von Prenzlauer Berg zieht man nach Friedrichshain um. Die 1000. Lesung, die am kommenden Sonntag zur gewohnten Zeit, also pünktlich nach der Tagesschau, stattfinden soll, wird im «Haus Berlin» präsentiert, in der sogenannten «Panorama-Lounge» im 13. Stock des Gebäudes, Räumlichkeiten, in denen sonst für gewöhnlich eine Tanzschule residiert. Als Gäste werden der Liedermacher Manfred Maurenbrecher, Gründungsmitglied der Reformbühne, und die Videokünstlerin Rigoletti erwartet, die «den »Abriss des Stadtschlosses vorbereitet«, so Hein.
Einen »unfassbaren Ausblick über Berlin« habe man dort. »Wirklich eine phantastische - wie sagt man heute? - Immobilie! Aber von Glamour sind wir da zum Glück dennoch meilenweit weg. Es hätte auch niemand von uns das mitgemacht, wenn das ein Schickimicki-Laden gewesen wäre«, erklärt Hein. »Wir haben den Betreibern vorgeschlagen, dass sie bei unseren Veranstaltungen ein Bier oder ein Glas Wein für je zwei Euro verkaufen. Für Berlin ist das auf jeden Fall billig. Ich wüsste keine Kneipe, in der nichts mit Kultur ist, wo man ein Bier für weniger als drei Euro bekommt. Man war da unseren Wünschen gegenüber offen.«
Auf der Fassade des ›Hauses Berlin‹, das von dem für den Städtebau der DDR in den 50er und 60er Jahren maßgeblichen Architekten Hermann Henselmann entworfen wurde, sind übrigens aus einem Gedicht Bertolt Brechts stammende Zeilen als Inschrift angebracht: »Als wir aber dann beschlossen, endlich unsrer Kraft zu trauen und ein schönres Leben aufzubauen, haben Kampf und Müh’ uns nicht verdrossen.«
7.9., »Haus Berlin«, Strausberger Platz 1
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