Die Eispanzer an den Polen schmelzen
Umfangreiche Studie über den weltweiten Rückzug von Gletschern vorgelegt
Das Abschmelzen der Eiskappen Grönlands und der Antarktis ist für Einheimische und Forscher gleichermaßen unübersehbar. Reichten die Gletscherzungen bis vor wenigen Jahren noch bis ans Meer, enden sie inzwischen vielerorts bereits mehrere Kilometer vorher. Der Masseverlust an Eis ist enorm, aber trotz verschiedener Untersuchungen dänischer, kanadischer und amerikanischer Forschergruppen existierte bisher eine große Unsicherheit, wieviel Eis eigentlich weggetaut ist.
Das zu untersuchen, hatte sich eine Gruppe des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) in Bremerhaven zum Ziel gesetzt. Dafür nutzte sie Messdaten, die der Satellit »CryoSat-2« der Europäischen Raumfahrtagentur ESA über ein Jahr lang gesammelt hatte. Die Messreihe startete 2012, sodass die Ergebnisse im Großen und Ganzen die aktuelle Lage widerspiegeln. Der grönländische Eisschild wurde dabei mit 14,3 Millionen Messpunkten vermessen, während die weitaus größere Antarktis 200 Millionen Mal mit Radarimpulsen untersucht wurde. Als Ergebnis entstanden Karten, die den Höhenverlust der Eispanzer in diesem Zeitraum darstellen. »Die neuen Karten sind Momentaufnahmen, die uns den aktuellen Zustand der Eisschilde zeigen. Ihre Höhenangaben sind bis auf wenige Meter genau und decken eine Eisfläche von insgesamt 16 Millionen Quadratkilometer ab«, erläuterte der AWI-Glaziologe Veit Helm.
Als Vergleichsdaten für die Berechnung von Eisverlusten oder -gewinnen zogen die AWI-Forscher die vom US-Satelliten »ICESat« 2009 gemessenen Werte heran. Die Forscher konnten aus den Differenzen errechnen, dass die grönländische Eiskappe jährlich 375 Kubikkilometer Eis verliert, während es in der Antarktis rund 125 Kubikkilometer sind. Wichtig ist jedoch zu bemerken, dass sich die Schmelzgeschwindigkeit der Gletscher in Grönland seit 2009 »nur« verdoppelt hat, während sie auf der Südhalbkugel heute drei Mal so hoch ist wie damals. Es kann also davon ausgegangen werden, dass von hier aus in den nächsten Jahren wesentlich mehr Wasser ins Meer kommen wird als bisher. Überdies zeigt der Vergleich der Messungen, dass sich das Abschmelzen nicht auf die Westantarktis beschränkt. Bisher hatten Optimisten darauf gesetzt, dass der antarktische Eispanzer besonders im östlichen und zentralen Teil wachsen würde, doch das amerikanische Klimazentrum NOAA fand unlängst einen Rechenfehler, der dieser Hoffnung den Boden entzog. Unter dem Strich verliert auch der Eispanzer der Ostantarktis an Masse. Am deutlichsten ist der Schwund auf der Antarktischen Halbinsel und in der Amundsen-See zu sehen.
Die Daten von 2012 bestätigen damit den Trend der früheren Messungen. Die AWI-Glaziologin Angelika Humbert bezeichnete die Eisverlustrate als die höchste seit Beginn der Satelliten-Höhenmessungen vor rund 20 Jahren. Für Grönland gilt, dass der gesamte westliche Eisschild in einem breiten Streifen, der sich weit in das Land hineinzieht, dünner wird. Ebenso ist es im Süden der größten Insel. Auch Nordostgrönland ist stark betroffen. Dies ist auf den ersten Blick überraschend, aber hier macht sich bemerkbar, dass das Land relativ tief gelegen ist, weit in das Meer hineinreicht und hier weniger Schnee fällt als anderswo in Grönland.
Die Ergebnisse des AWI werden von dänischen Kollegen bestätigt, die seit Jahrzehnten das Grönlandeis untersuchen. Ruth Mottram, Glaziologin beim Dänischen Meteorologischen Institut (DMI): »Das AWI benutzt eine kompliziertere Technik als wir für die Erarbeitung unserer Modelle, aber diese gestattet es, größere Gebiete und einen längeren Zeitraum einzubeziehen. Im Großen und Ganzen kommen wir zum gleichen Ergebnis, dass die Eispanzer an Masse verlieren.«
Sowohl AWI wie DMI gehen davon aus, dass das abschmelzende Polareis den Pegel der Weltmeere jährlich um einen Millimeter steigen lässt. Die DMI-Forscher untersuchen gegenwärtig, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Schmelzen des Meereseises und der Gletscher. Sie vermuten eine gegenseitige Beeinflussung aufgrund der verringerten Lichtreflexion des Polarmeers.
Mit dem Albedo genannten Maß für das Rückstrahlvermögen einer Fläche beschäftigt sich auch das dänische »Dark Snow Project«. Dunkler Schnee klingt etwas paradox, doch die Verunreinigung des grönländischen Eisschildes mit Ruß aus den Schornsteinen der Industrie, der Schiffe sowie von Waldbränden in Alaska, Kanada oder Sibirien macht die Schnee- und Eisflächen dunkler, sodass sie mehr Wärme aufnehmen. Damit wird das Abtauen des Eispanzers weiter beschleunigt. »Dunklen Schnee« bemerkte schon der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen bei seiner Durchquerung Grönlands 1888, also zu Beginn des industriellen Zeitalters.
Ein Team von der Universität Innsbruck untersuchte die weltweiten Eisverluste der Gletscher in den Gebirgen außerhalb der Antarktis. Seit 2012 gibt es ein globales Verzeichnis der Gletscher mit Daten aus dem Zeitraum zwischen 1851, dem offiziellen Ende der sogenannten Kleinen Eiszeit, und 2010.
Gletscher reagieren sehr träge auf Umweltveränderungen und es dauert Jahrzehnte, bis sie sich auf neue Bedingungen eingestellt haben. Dies betrifft sowohl natürliche Bedingungen wie die veränderte Sonneneinstrahlung als auch Eingriffe des Menschen. Ziel war es herauszufinden, welchen Anteil an den Veränderungen natürliche bzw. menschliche Faktoren haben. Dazu erarbeiteten die Innsbrucker Wissenschaftler ein Computermodell, das diese Einflüsse ins Verhältnis setzt. Gleichzeitig ist das Ausblenden einzelner Faktoren möglich, um Vergleichsresultate zu bekommen. Während danach der menschliche Anteil bis 1990 nur 25 Prozent betrug, ist er seitdem auf 69 Prozent gestiegen und stimmt damit überein mit den globalen Klimatendenzen.
Ungeachtet davon, welche Untersuchungsmethode angewandt wird, kommen die Forschergruppen zur gleichen Schlussfolgerung: Das Eis schmilzt in wachsendem Tempo.
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