Wie polierte Pflaumen
Eindrücke vom Musikfest Berlin - ein Programm ohne Mut zur Innovation
Programmkrise? Das Wort soll erst einmal zurückstehen. Doch Programmprobleme hat das Musikfest Berlin allemal. Sekurität und Allmacht des Großbetriebs regieren. Todsicher das Repertoire der diesjährigen Spiele. Gängiges steht auf den Zetteln, versetzt mit Einschüssen aus der Plätzchenpistole in Gestalt eines Anton-Webern-Stückes und wenigen Beiträgen sonstiger Neutöner. Wer würde nicht Schubert, Brahms, Mendelssohn, Schumann, Tschaikowsky, Mahler, Bruckner, Richard Strauss auch in allen anderen größeren Häusern vermuten? Wo ist das Neue zu finden?
Der Jahrgang 2014 kennt Innovationen nicht. Die Arbeiten der lebenden Edelleute des Musikfestes wie Wolfgang Rihm und Jörg Widmann (Klarinettist und Komponist) sind so griffig, so unanstößig, dass sie sich, kommen sie zur Geltung, neben den Großen wie polierte Pflaumen ausnehmen dürften. Hochgehandelte Komponisten wie Lachenmann, Ligeti, Gubaidulina, Schnittke erscheinen programmlich so eingebettet, dass ihre Musik keinen Unfug treiben kann. Die beiden Letztgenannten, Russen, einst Kritiker des Sowjetsystems, sind seit Jahrzehnten sicher integriert in der deutschen Festivalszene. Wäre da nicht bald der Blick zu öffnen?
Niemand der Nominierten fällt heraus aus dem glatthobelnden betrieblichen Kanon. Auch Aribert Reimann nicht, zwei Werke von ihm sind programmiert, zu Recht geachteter Meister der Oper, der Vokal- und Instrumentalmusik, desgleichen Peter Eötvös. Er, Dirigent und Komponist, steht mit einem Stück zu Buche. Immerhin: auf Enno Poppes Ensemblekollektivstück »Speicher« darf der Hörer gespannt sein. Im übrigen gilt der altehrenwerten Galina Ustwolstkaja, geboren 1919 in Petrograd, gestorben 2006 in St. Petersburg, eine »Late night«, die in der Philharmonie ohnehin gekommen wäre. Kooperationspartner des Musikfestes ist die Stiftung Berliner Philharmoniker, so dass allerlei Teile des philharmonischen September-Repertoires ins Musikfest einfließen, was Vor- und Nachteile haben kann. Indes: Fremdes, Überraschendes, Anarchisches - anspruchsvolle Musik hat die Fülle davon - bleibt außen vor.
Wiederkehrendes Plus des Festes der Beginn. Meist kommt alte Musik und setzt sich in Form von Recitalen weiter fort. Pierre Laurant Aimard eröffnete mit Teil I des »Wohltemperierten Claviers« von J. S. Bach. Laurant, der nicht vergisst, seine Brille abzusetzen und auf den Flügel zu legen, bevor er anhebt, ist einer der großen Pianisten unserer Zeit. Werke Bachs sind schlechthin Gegenbilder, solche wider die Gefährlichkeiten und Bedrückungen der Zeit, in der sie entstanden, wie ebenso unserer Zeit. Sie opponieren. Nicht allein die redenden Gebilde Bachscher Vokalmusik, genauso die autonomen, rein aus den materialen Triebkräften erwachsenden Stücke wie die »Goldbergvariationen«, die »Kunst der Fuge« oder das »Wohltemperierte Clavier«.
Wer Abende mit Aimard erlebt hat, dürfte sie nicht vergessen. Das weltweit von Klavieranfängern gespielte C-Dur-Präludium, einleitend das »Wohltemperierte Clavier I«, geriet unter seinen Fingern so uneben und komisch, dass es dem Spiele eines Kindes nachempfunden schien. Hernach setzte die ganze technische Klasse und hohe Auffassungsgabe des schlanken, freundlichen Mannes ein und zog die Leute in Bann. Eine gewaltige allein gedankliche Leistung. Unüberhörbar die Langsamkeit und Traurigkeit der Präludien und Fugen des letzten Viertels des die chromatische Skala durchmessenden Werkes.
Stars und Internationalität hebt das Musikfest wieder und wieder hervor. Orchester, Chöre, Solisten, Ensembles, Dirigenten können nicht namhaft genug sein. Gidon Kremer spielte mit der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann das 2. Violinkonzert von Sofia Gubaidulina (beendet 2006), glänzend, makellos, überhaupt nicht exzentrisch, denn der Violinpart ist nicht wirklich exzentrisch, obwohl die Geheimnistuer in der Szene dem Gubaidulina-Stück einen ekstatischen Zug anheften, den es gleichfalls nicht hat. Das Werk ist nicht besser als andere große Geigenkonzerte (etwa von Berg, Schönberg, Goldmann, Schnittke), es ist anders. Es steckt voller Effekte, anschwellende Kurven wechseln mit so ungestümen wie lyrischen Solokadenzen ab. Ein außerordentliches Opus, an dem Gubaidulina an die zwanzig Jahre gearbeitet haben soll. Nach der Pause kam Bruckners gern und häufig gespielte 9. Sinfonie. Die Sächsische Staatskapelle brillierte hier vor allem im Scherzo/Trio-Satz. Eine tönerne Maskerade passiert Revue, von Bruckner nur einmal in dieser komischen, extreme Reize ansprechenden Launigkeit zustande gebracht.
Zum Programm zuguterletzt: Die Debatte darüber, wieweit Ostkomponisten (sie sind nicht minder deutsche Künstler wie ihre Kollegen »drüben«) in zentralen Festivals auftreten, ist müßig. Deren Chance ist gleich Null. Seit vielen Jahren. Die Karten sind längst gemischt. Für die Macher des Musikfestes ist der in der DDR sozialisierte Komponist inexistent. Sollte Winrich Hopp, der künstlerische Leiter, doch wenigstens mal über drei von diesen unikalen Typen nachdenken. Erstens: Über den großen Altmeister Georg Katzer, er wird in wenigen Monaten 80, aus dessen Feder Orchesterwerke erste Güte stammen. Zweitens: Über den kreativen Feuerkopf Friedrich Goldmann, dessen 1. Sinfonie zu den Nationalkulturgütern deutscher Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zählen nicht übertrieben ist. Drittens: Über Erstrangiges wie die »Symphonia alpina« mit Chor auf Texte von Petrarca des bedeutenden Friedrich Schenker, er starb 2012, ein Werk der Schublade, das endlich aufgeführt gehörte. Schließlich sei ganz unbesserwisserisch gesagt: Das Musikfest sollte sich doppelt soviel umschauen wie bisher und mit seinem geringeren Geld das machen, was einem modernen Festival - keinem, das den Sicherheiten alter und neuer Tage frönt - in diesen gefährlichen Zeiten Gesicht und Stimme gibt.
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