Gewalt und Zärtlichkeit

Der Regisseur Heiner Carow wäre 85

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Seine Plenzdorf-Verfilmung von »Die Legende von Paul und Paula« kennt jeder, doch seine späte Fortsetzung dieses Films »Die Verfehlung« (Paula mit fünfzig, so lautete die Filmidee), wiederum mit Angelica Domröse, diesmal an der Seite des kürzlich verstorbenen Fassbinder-Schauspielers Gottfried John, ist seltsam unbekannt geblieben. Heiner Carow hat beides erlebt: den übergroßen Erfolg ebenso wie den unerklärlichen Misserfolg. Beides schien mit seiner Person immer indirekt zu tun zu haben.

Carow wusste, Filme brauchen einen Resonanzboden, sie müssen gleichsam die Fenster aufstoßen, durch die man lange schon sehnsuchtsvoll geblickt hat. 1973 war das so. Plenzdorf, der zum Salinger des Ostens geworden war, brachte den Beat. »Die Legende von Paul und Paula« war pure Anarchie, ein Nachklang jener Jugendkultur, die mit den Klängen der Rockgruppe »Steppenwolf« den Weg des »Born to be wild« ging – geboren, um wild zu leben. Und dabei passte Paula von der Flaschenannahme in der Berlin-Friedrichshainer Kaufhalle wie eine Ikone ins Bild: die DDR (wieder einmal) am Scheideweg. Gelingt es Paula mittels Liebe aus dem steifen Stasi-Bürokraten Paul (Winfried Glatzeder) einen Vollmenschen zu machen? Noch schien die Antwort offen.

Als Carow 1991 als einen der letzten Defa-Filme »Die Verfehlung« drehte, war die DDR bereits Geschichte, und niemand wollte so unmittelbar nach ihrem Ende an die Zeit unmittelbar vor ihrem Ende erinnert werden. Denn »Die Verfehlung« spielt 1988 in einem Dorf in der DDR-Provinz. Der Bürgermeister (Jörg Gudzuhn) hat eine Verhältnis mit einer einfachen, nicht mehr jungen Frau aus dem Dorf. Eine große Rolle für Angelica Domröse, die damit zur DEFA zurückkehrte, kurz bevor diese abgewickelt wurde. Eines Tages aber steht jener Mann aus Hamburg im Dorf: ein Blick zwischen Mann und Weib, und alles ist klar. Gottfried John konnte das spielen, jene anziehende Fremdheit zwischen ihnen, die ihrer Liebe nicht im Wege stand, im Gegenteil. Das war Carows Botschaft, von der in der Nachwendeenttäuschung niemand etwas wissen wollte.

Unzeitgemäß war Carow ohnehin immer: »Coming out«, ein Film über schwule Selbstfindung, so poetisch-subtil, wie man es sich heute gelegentlich wieder wünschte, wenn es um dieses Thema geht, zugleich ein Porträt der Gesellschaft im Übergang. »Coming Out« erhielt zwar 1990 auf der Berlinale den Silbernen Bären, als Emanzipationsfilm für die DDR aber kam er zu spät. Niedergang oder rettende Transformation? Carow wollte immer beides zugleich als Möglichkeit denken.

1929 in Rostock geboren, war Heiner Carow ein Kind der DEFA, lernte ab 1950 bei Slatan Dudow, dem »Erfinder des proletarischen Films«, legte 1952 seinen ersten Film vor: »Bauern erfüllen den Plan«. Es war dann die Begegnung mit den Büchern Benno Pludras, die ihn subtiler sehen, hinter der unmittelbaren Alltagswirklichkeit eine poetische Dimension des Lebens entdecken ließ. Mit seiner Verfilmung der »Reise nach Sundevit« fand er 1966 seinen eigenen Erzählstil, der jede Form von Besserwisserei hinter sich ließ und sich ganz seinen Figuren anvertraute. Oft waren es Kinder oder eben Liebende, die beide gleichermaßen naiv auf ihre allzu erwachsene Umgebung wirkten.

Vielleicht hielt er darum »Ikarus« von 1975 für seinen besten Film (er war es aus heutiger Sicht nicht), weil er konsequent aus der Perspektive eines Scheidungskindes erzählt war. »Bis dass der Tod euch scheidet« von 1978 mit Katrin Saß und Martin Seifert blickte tief in die Schatten der angeblich regierenden – in Wahrheit längst ohnmächtigen – Arbeiterklasse, in der Frust und Alkohol zu menschlicher Verwilderung führten. Die Ehe, von der hier erzählt wird, ist eine Hölle aus Liebesunfähigkeit und Gewalt. Auch das war sozialistischer Realismus, der einigen Funktionären jedoch erheblich missfiel. Es waren die gleichen, die sich bei seiner zusammen mit der Band Pankow geschriebenen Rockoper »Paule Panke« an einer schwulen Nebenfigur oder einem unsympathisch gezeichneten Funktionär störten. Heiner Carow arbeitete auch für das Theater: So führte er 1965 am Volkstheater Rostock Regie bei der DDR-Erstaufführung von Rolf Hochhuths »Der Stellvertreter«.

Nach der Wende gab es keine Kinofilme mehr, die er drehen konnte. Gelegentliche Fernsehfilme – »Begräbnis einer Gräfin«, »Vater, Mutter, Mörderkind«. Andere Projekte zerschlugen sich, aber das Scheitern war nichts für ihn, was er nicht bereits kannte – und akzeptierte. Uns fehlen heute jene Filme, die er nicht drehte. Vor allem das 1964 vorbereitete Projekt einer großangelegten Verfilmung von Grimmelshausens »Simplicius Simplicissimus«, für das Franz Fühmann das Drehbuch schrieb und das beide jahrelang durchzusetzen versuchten. Vergeblich: ein Simplicissmus, der mitten im herrschenden Chaos klar blickt, das war kein Held einer DDR, wie sie sich offiziell sehen wollte.

Aber Heiner Carow, der 1997 starb, sah in dieser Figur immer sein Alter ego. An diesem Freitag wäre der Regisseur 85 Jahre alt geworden.

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