Frauen rechtfertigen sich wieder

Ines Scheibe über verlorenes Selbstverständnis

  • Lesedauer: 5 Min.
Ines Scheibe leitet in Berlin die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle des Humanistischen Verbands Deutschland. Der HVD gehört zu den Initiatoren der Kundgebung für sexuelle Selbstbestimmung am Brandenburger Tor. Mit der Psychologin sprach Ines Wallrodt.

«Guten Tag, ich bin 30 Jahre alt, schwanger und möchte kein Kind.» Was antworten Sie dieser Frau in der Beratung?

Ich sage: «Sicherlich haben Sie sich schon viele Gedanken gemacht und mit anderen Leuten gesprochen. Wenn Sie meinen, dass das für Sie die richtige Entscheidung ist, dann wird das so sein. Sie sind die Expertin für Ihr Leben.

Keine Überredungsversuche?

Bei uns muss sich keine Frau rechtfertigen. Wir gehen davon aus, dass sie sehr gründlich darüber nachdenkt, was sie verantworten kann.

Und wenn eine Frau unsicher ist?

Schwierig finde ich persönlich, wenn gesellschaftliche Gründe gegen ein Kind sprechen, zum Beispiel beengte Wohnverhältnisse oder Arbeitslosigkeit. Aber auch das ist die Entscheidung der Frau. Kompliziert wird es auch, wenn Frauen moralische Bedenken gegen Abtreibung haben, weil sie religiös sind, aber im Grunde kein Kind wollen.

Wie reagieren Sie darauf?

Ich mache Ihnen ein Gesprächsangebot, dass wir das gemeinsam auseinander sortieren können. Nicht als Zwang, sondern nur wenn sie wollen. Manche kommen dann sogar mehrmals.

Warum müssen sich Frauen überhaupt beraten lassen? In andere Lebensentscheidungen mischt sich der Staat auch nicht ein.

Der Humanistische Verband hat stets eine Fristenregelung ohne Beratungspflicht befürwortet. Aber nun ist es Gesetz, und dann wollen wir ein Angebot vorhalten, das der Selbstbestimmung von Frauen gerecht wird.

Wie entwickelt sich in Deutschland die Zahl der Abbrüche, auch in Relation zur Geburtenrate?

Die Zahl der Abtreibungen sinkt. Es sind jetzt etwas mehr als 100 000 im Jahr. Die Geburtenrate ist konstant niedrig bei rund 680 000, mit einer Tendenz nach unten.

Das heißt, die Deutschen haben weniger Sex oder verhüten besser.

Es liegt wohl mehr an guter Verhütung. Das ist ausgesprochen positiv. Denn Schwangerschaftsabbrüche sind immer nur das allerletzte Mittel. Das muss gute Sexualaufklärung vermitteln. Wir setzen uns auch dafür ein, dass die »Pille danach« endlich auch in Deutschland rezeptfrei wird.

Spätabtreibungen ab der 25. Schwangerschaftswoche haben sich seit 2000 mehr als verdoppelt, was eine Folge von Pränataldiagnostik sein dürfte. Kann man aus feministischer Perspektive den Wunsch nach einem Normkind kritisieren?

Ich finde diese Entwicklung furchtbar. Sie wird durch Wissenschaft und Technik vorangetrieben. Wir sind strikt gegen (Selektion durch) Pränataldiagnostik. Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind.

Ärzte bieten diese Untersuchungen inzwischen standardmäßig an. Über die Konsequenzen aus einem schwierigen Befund wird vorher wenig gesprochen. Wäre hier nicht mehr Beratung wünschenswert?

Aber ja. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Beratungsangebote finde ich richtig. Falsch finde ich die Pflicht dazu, weil sie Frauen in Fragen, die ihren Körper betreffen, reglementiert. Deshalb bin ich auch gegen die letzte Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes von 2010. Seither ist auch für Frauen mit einem auffälligen Pränataldiagnostikbefund die Drei-Tage-Bedenkfrist vorgeschrieben. Das ist eine Entmündigung der Frauen.

In den 70er Jahren brachen Hunderte Frauen ein Tabu mit ihrem öffentlichen Bekenntnis: »Wir haben abgetrieben«. Wie normal ist diese Entscheidung heute?

Ich fürchte, wir werden bald wieder die Situation von damals haben. Abtreibung wird zunehmend individualisiert und kriminalisiert.

Abtreibungsgegner gewinnen an Einfluss?

Deren Vorstellung von den »ungeborenen Kindern« ist fast schon hegemonial. Wenn eine Frau den Embryo als Kind sehen möchte, ist das okay. Aber ansonsten sprechen wir von Frucht, bis eine Geburt ansteht. Zu dieser Vorstellung tragen auch die verbesserten Ultraschallgeräte bei, die Föten und Embryonen stark vergrößern. Mit den Emotionen, die diese Bilder auslösen, arbeiten die »Lebensschützer« und verändern das gesellschaftliche Klima.

Woran merken Sie das?

An den Frauen, die zu uns in die Beratung kommen. Seit 1992 machen wir die Beratung in Berlin-Prenzlauer Berg. Damals kamen die Frauen in der Regel mit einer klaren Ansage: Wir möchten einen Abbruch. Die Beratungspflicht fanden sie blöd. Wir mussten uns fast verteidigen, dass wir dafür nicht verantwortlich sind. Frauen heute rechtfertigen sich. Viele kommen zu uns und haben mit niemandem darüber geredet, weil sie nicht sicher sind, wie Familie oder Freunde reagieren.

Wächst auch der Einfluss auf die Politik in Deutschland?

Der ganze Paragraf 218 belegt ihren Einfluss. Er kriminalisiert Frauen, indem er Schwangerschaftsabbruch zu einem Straftatbestand erklärt, der lediglich in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft nicht geahndet wird, wenn bestimmte Bedingungen wie Beratung und Bedenkzeit erfüllt sind. Außerdem verbietet er Werbung für Schwangerschaftsabbrüche. Das führt dazu, dass Ärzte, die im Internet auf diese Dienstleistung aufmerksam machen, regelmäßig Anzeigen aus dem Kreis dieser Lebensschützer bekommen.

Wurden Ärzte deshalb verurteilt?

Bis jetzt nicht. Aber die Anfeindungen und Anzeigen verunsichern.

Was ist Ihr Gegenentwurf?

Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, sollten ihn als normale medizinische Leistung bekommen. Das war in der DDR 20 Jahre lang möglich und ist es in Kanada seit den 80er Jahren. Dort sind weder die Geburten zurückgegangen, noch die Abtreibungszahlen gestiegen. Entscheidend für diese Frage sind die Lebensverhältnisse.

Entspringt die wachsende Stärke der Abtreibungsgegner der Schwäche der Frauenbewegung?

Durch die Frauenbewegung wurde Schwangerschaft auch als politische Frage thematisiert. Sie hat viel erreicht, auf anderen Feldern mehr als in der Abtreibungsfrage. Viele Frauen dachten, es ist alles erreicht bzw. jetzt geht es nur noch vorwärts. Um die Abtreibungsfrage wurde es lange Zeit ruhig. Zeit, die die Gegner genutzt haben. Die Pro-Life-Bewegung ist international auf dem Vormarsch. Sie kann Gesetze verschärfen oder verhindern.

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