Ein Jahr in Kuba

Ein deutscher Regisseur lernte den Alltag und die Kulturszene der Karibikinsel kennen

  • Arne Retzlaff
  • Lesedauer: 9 Min.
Für »neues deutschland« schildert ein Dresdner seine Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen aus einem einjährigen Kuba-Aufenthalt.

Kuba - alles klar. Die einen träumen von weißen Stränden, dunklen Schönheiten, Tabak und Rum, die anderen wissen von fehlenden Menschenrechten und Demokratie, von Misswirtschaft und Flucht übers Meer, wieder andere führen das beispielhafte Bildungs- und Gesundheitswesen an, den Jahrzehnte währenden Kampf gegen den übermächtigen Feind aus dem Norden und alle kennen Fidel Castro, Che Guevara und den Buena Vista Social Club. Welche Sprache spricht man auf Kuba? Kubanisch! Alles klar. Die Vorurteile und Klischees sind eingebrannt, die Realität, wie immer, vielfältiger, verwirrender, nicht vergleichbar.

Einen tiefen Einblick in die kubanische Realität vermittelt der Film »Conducta« des Regisseurs Ernesto Daranas. Er schildert das Schicksal eines 11-jährigen Jungen in Havanna. Seine Mutter trinkt, seinen Vater kennt er nicht. So ist eine ältere Lehrerin sein einziger Halt. Als sie nach einem Infarkt für Monate ausfällt, eskaliert die Situation zu Hause und in der Schule. Es ist ein Film großer Menschlichkeit, berührend, bedrückend, aufwühlend. Und es ist auch ein Film über die Stadt Havanna. Immer in Bewegung, voller Menschen auf der Suche, einer Stadt im Überlebenskampf. Ein schonungslos offener Blick auf eine Gesellschaft im Umbruch.

Wir lebten ein Jahr in Kuba, nicht in Havanna oder Santiago de Cuba, sondern fernab der Touristenrouten im beschaulichen Manzanillo, im Südosten der Insel, in der Bucht von Guanacayabo. Wir, das sind meine kubanische Frau Tania, unser Sohn José-Alexander und ich. Wir hatten dieses Jahr lange geplant. Unser Ziel war, unserem Sohn seine zweite Heimat, Kultur, Sprache erfahrbar zu machen, ein interessantes Theater in Kuba zu finden, um eine Kooperation mit den Landesbühnen Sachsen vorzubereiten und unser Haus, das wir ein Jahr zuvor gekauft hatten, auszubauen. Im Juli 2013 tauchten wir ein in unsere kubanische Realität.

Wir hatten unseren Sohn konsequent zweisprachig erzogen und nachdem alle Dokumente und Unterlagen beisammen waren, die Schuluniform, Bücher, Hefte, Stifte organisiert, alles kostenlos, eine kleine Schule im Zentrum der Stadt ausgesucht war, konnte er Anfang September mit der dritten Klasse beginnen. Er musste nur noch die Nationalhymne lernen, mit der jeder Schultag begann. Wir fuhren mit der Pferdekutsche, auf der acht Menschen Platz fanden, oder einem alten chinesischen Fahrrad, das uns unser Nachbar angeboten hatte, zum Unterricht.

In Josés Klasse gab es 15 Schüler, alles war sehr familiär, die Kinder wurden mit Küsschen und »Mein Herz«, »Meine Liebe«, »Meine Sonne« begrüßt und neben Spanisch, Mathematik stand auch Englisch, Schach und Umgang mit Computern auf dem Stundenplan. Geschrieben wurde nur mit Bleistift und Sportunterricht fand auf der Straße statt. Natürlich war José die Ausnahme, der Prinz, der Exot. Kubaner sind offen, kontaktfreudig und völlig indiskret. Auch die Kinder. Sie wollten alles wissen, immer wieder diese harte, zischende »Hundesprache« hören.

Ein Jahr Schulalltag in Kuba mit Appell, wenig Ferien, Tagen der Entdecker, an denen Exkursionen in der Stadt unternommen wurden, Feiern zum 1. Mai und zu José Martí, aber auch mit Kinderkarneval, Theaterbesuchen, Filmvorführungen im Klassenzimmer. Und dort, in seiner Schule, wurde auch der Film »Conducta« gezeigt. Themen wie Zerfall der Familie, Überforderung der Lehrer, Umgang mit Religion, Auswanderung wurden mit den Kindern besprochen. »Chala«, die Hauptfigur des Filmes, züchtet auf dem Dach des Hauses hoch über der Stadt Tauben, Symbole des Friedens, der Liebe, des Fliegens und der Rückkehr, hält aber auch Kampfhunde.

Fährt man durch Kuba, fällt auf, dass überall gebaut wird. In keinem anderen Sektor ist das Dilemma, aber auch der Transformationsprozess Kubas deutlicher sichtbar. »Se vende o se permuta« (»Man verkauft oder tauscht«) ist an vielen Häusern zu lesen. Wer etwas Geld hat, setzt eine zweite Etage auf das Dach, streicht seine Hausfassade, baut an, baut aus. Im Jahr 2011 wurde ein neues Gesetz erlassen, das den Handel mit Immobilien erlaubt und einen wahren Bauboom ausgelöst hat. Ziel war es, Geld der Exilkubaner und Ausländer ins Land zu holen und so den Verfall der Bausubstanz zu stoppen. Kuba hat in den letzten Jahren viel in die Restaurierung seiner Städte investiert. Viele koloniale Innenstädte, historische Bauten, Kirchen, Boulevards sind liebevoll saniert, Santiago de Cuba wurde nach dem Hurrikan Sandy von 2012 zum größten Teil wieder aufgebaut. Schlendert man durch die Altstadt von Havanna, fühlt man sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Unter der Leitung von Eusebio Leal wird dieses Stadtviertel, Weltkulturerbe der UNESCO, zu einem Schmuckstück kolonialer Architektur. Eine Straße weiter, ein Stadtviertel daneben schockiert der Verfall. Heruntergekommene Fassaden, eingestürzte Decken, Wohnhöhlen, mehrfach geteilt, mit schmutzigen Vorhängen abgetrennt, schwach beleuchtet.

Will man in Kuba bauen, muss man reden, auf die Leute zugehen, fragen, mit den Frauen Gerüchte austauschen, mit den Männern trinken, man muss zeigen, dass man arbeiten, wie sie leben kann, keine Ausnahme ist, einer von ihnen. Man sollte Geduld haben. Und vor allem Humor. Denn Kubaner lachen über alles, sind große Spötter, respektlos und selbstironisch. »Wir sind wohl das einzige Volk, das sich über die eigene Misere kaputtlachen kann«, sagte mir ein Arbeiter mit Tränen in den Augen. Sucht man also einen Handwerker, muss man nur seinen Nachbarn fragen. Kurze Zeit später steht ein Maurer vor der Tür. Man trinkt einen Kaffee zusammen, zeigt die anstehenden Arbeiten, einigt sich auf den Lohn und besiegelt alles mit Handschlag. Und sieht ihn nie wieder. Kommt er doch, so bleibt er auch. Hausbau in Kuba ist eine Odyssee, ein Spiel mit vielen Unbekannten, eine Überraschungsparty. Materialbeschaffung, Transport, Organisation der Arbeit. Manchmal gibt es genug Material und die Arbeit geht schnell voran. Dann wieder Flaute, im Baumarkt gähnende Leere, der Verkäufer schläft auf dem Verkaufstresen und ein Schild informiert über die Planübererfüllung.

Bei uns ist Tania die Bauchefin. Sie organisiert, führt die Verhandlungen. Und genießt es. Wenn es an der Tür klopft und ich öffne, geht der Blick oft an mir vorbei mit der Frage: »Kann ich mal Ihre Frau sprechen?« Da alle selbst gebaut haben, gerade bauen oder bauen werden, sind auch alle Fachleute. Die Familie, die Freunde, die Nachbarn, alle helfen.

Als ich die Landesbühnen Sachsen, wo ich 13 Jahre als Schauspieldirektor gearbeitet hatte, verließ, unterbreitete mir der Intendant den Vorschlag, nach einem Kooperationspartner in Kuba für ein gemeinsames Theaterprojekt zu suchen. Kuba ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster kultureller Einflüsse. Spanische Eroberer, afrikanische Sklaven, französische Pflanzer aus Haiti, Onkel Sam aus dem Norden, chinesische Kontraktarbeiter, libanesische Einwanderer brachten ihre Rhythmen, Farben und Mythen mit und vermischten sich mit indigenen, karibischen und lateinamerikanischen Einflüssen. Das Land verfügt neben einem großen Reichtum in Musik und Malerei auch über eine interessante und vielfältige Theaterszene, hervorragend ausgebildete Schauspieler.

Ich begann meine Suche nach einem Partnertheater in Manzanillo. Nach einer Aufführung der Theatergruppe »Ategua«, die mir sehr gut gefallen hat, nahm ich Kontakt mit der Intendantin des Theaters, Frau Esperanza Martínez Llopiz, auf. Man spricht immer von Havanna, aber auch in Camagüey, Las Tunas, Bayamo, Santiago de Cuba oder Guantánamo gibt es interessante Theatergruppen, gibt es experimentelles, sozial engagiertes Theater, Theater für Kinder oder mobile Gruppen, die über Land fahren. Die Intendantin empfahl mir das »Teatro del Viento« in Camagüey als das innovativste Theater außerhalb Havannas.

Auf unserer Fahrt nach Havanna machten wir in Camagüey, der drittgrößten Stadt des Landes, Halt und verabredeten uns mit dem Leiter des »Teatro del Viento«, mit Freddys Núñez Estenoz. Er ist ein aufgeschlossener, direkter Mensch, der gleich zur Sache kommt, über die Gründung der Theatertruppe 1999 und die ersten Jahre, als sie noch völlig ohne Subventionen auskommen musste, erzählt und man merkt in all seinen Worten und Gesten, dass da ein Theatertier spricht, ein Beseelter, ein Besessener. Er ist Autor, Regisseur, Mitbegründer des Theaters und Präsident des Nationalen Theatertreffens, das alle zwei Jahre im September, wenn kein Hurrikan dazwischenkommt, stattfindet. Wir verabreden ein erneutes Treffen in Camagüey, um eine Aufführung sehen zu können, und weiter geht’s nach Havanna.

Die letzten Kilometer, eine herrliche Fahrt über die mehrspurige Nationalstraße, vorbei am Fischerdörfchen Cojímar, bekannt als Ankerplatz von Hemingways Yacht »Pilar« und als Filmkulisse zu »Der alte Mann und das Meer«, rechts immer die Wellen des Golfes von Mexiko vor Augen und vor mir die Skyline der Hauptstadt.

Das Verbindungsbüro des Goethe-Instituts, im gut situierten Viertel Vedado gelegen, bietet seine Unterstützung bei der Übersetzung eines deutschen Stückes an. Von da weiter zum Nationalrat für Darstellende Kunst im Ministerium für Kultur, um mit Herrn Rafael Pérez-Malo, dem Vizepräsidenten zu sprechen. Von meiner Überlegung, mit Camagüey zusammenzuarbeiten und die Kooperation auf den Osten Kubas zu konzentrieren, ist er begeistert und verspricht mir jegliche Unterstützung. Mir sitzt kein Funktionär gegenüber, sondern ein Macher, ein Ermöglicher, der seine Sache kennt und liebt, aber auch die Schwierigkeiten nicht verbirgt. Voller Zuversicht verlasse ich sein Büro.

Einige Wochen später fahre ich mit der Intendantin des Theaters Manzanillo und mit José erneut nach Camagüey, um uns im »Teatro del Viento« eine Aufführung des Stückes »Elstern«, das extra für uns gezeigt wurde, anzusehen. Ein hartes, ehrliches Stück über den Mord an einem Strichjungen, der in der Stadt passiert war und viel Aufsehen erregt hatte. Ein schwarzer Raum, etwas Licht, vier Schauspieler und ein Text, der von unbedingter Lebensgier spricht, von der Sehnsucht nach Erweiterung, von der alltäglichen Verzweiflung. Verstörend. Gnadenlos.

Über das Maß an Offenheit und Gesellschaftskritik war ich erstaunt. Der Theaterleiter hatte das gesamte Theater versammelt, stellte mir jeden Mitarbeiter vor, von der Einlassfrau bis zum Hauptdarsteller und erzählte von der Probenarbeit. Um die Situationen und die Charaktere der Figuren wirklich zu kennen, mussten sich die Schauspieler als Prostituierte und Strichjunge verkleiden und nachts an die entsprechenden Plätze gehen. Es wurden Interviews in der Szene, auch mit Eltern von betroffenen Jugendlichen geführt, der Regisseur zwei Mal von der Polizei verhaftet und verhört. Er lädt mich zum Nationalen Theaterfestival, das dieses Jahr vom 3. bis 11. Oktober in Camagüey stattfindet, ein. Es ist die Möglichkeit, die Widerspiegelung der Gesellschaft im kubanischen Theater zu erleben.

Wieder in Dresden, schlage ich dem Intendanten der Landesbühnen Sachsen eine Zusammenarbeit mit dem »Teatro del Viento« vor. Ein Jahr in Kuba ist zu Ende. Ich denke an all die Begegnungen mit interessanten, offenen, klugen Menschen. Und ich denke an »Conducta«, an den Film, der den Finger in die offenen Wunden einer Gesellschaft legt. Der aber auch nach Lösungen sucht, der Liebe zeigt, das Bemühen umeinander, den Kampf füreinander. In der Familie, der Schule, der Gesellschaft. Diese junge Generation, so hoffe ich, wird die Geschicke des Landes gestalten und nicht der Nachbar im Norden, der immer nur Armut zurücklässt, Gewalt und gescheiterte Staaten.

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