Wie echte Finnen leben
Klassiker der finnischen Literatur: Aleksis Kivi. Seinen großen Roman »Sieben Brüder« gibt es jetzt in neuer Übersetzung
Warum der 3. Oktober ein Feiertag ist, wissen 20 von 100 deutschen Schülern nicht. Fragt man finnische Schüler nach dem 10. Oktober, kennen fast alle die Antwort. An diesem Tag wurde 1834 Aleksis Kivi geboren, der noch immer ein beliebter, viel gelesenen Schriftstellers ist. Weiß hier jemand das Geburtsdatum des Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen?
Aleksis Kivi erblickte in Nurmijärvi das Licht der Welt; sein Vater war Schneider. Als jüngster von vier Brüdern sollte er studieren und Pfarrer werden. Der Bildungsweg war kein einfacher, denn Aleksis musste erst einmal die Amtssprache des zaristischen Großfürstentums Finnland erlernen - das Schwedische. Erst mit 23 Jahren konnte er das Abitur ablegen, 1859 begann er ein Studium in Helsinki (das er nie abschloss) und beteiligte sich an einem Wettbewerb finnischer Erzähler, der ihm ein kleines Stipendium eintrug. So ermutigt, beschloss er, Schriftsteller zu werden. Mit den Dramen »Kullervo« und »Die Heideschuster« konnte er Preise gewinnen; die Uraufführung von Kivis Schauspiel »Lea« (1869) gilt sogar als die Geburtsstunde des finnischen Nationaltheaters. Das alles klingt wie eine Erfolgsgeschichte, doch die Realität sah anders aus: Kivi, der erste »Berufsschriftsteller« seines Landes, litt bittere Not. Finnische Stücke wurden selten gespielt, die Buchauflagen brachten kaum Geld. Da setzte er alles auf eine Karte und setzte sich über zwei Jahre an sein Opus Magnum - »Sieben Brüder« sollte der erste in finnischer Sprache geschriebene Roman werden!
Die Brüder Juhani, Tuomas, Aapo, Simeoni, Timo, Lauri und Eero wachsen auf dem Hof Jukola heran; der Vater wird auf der Jagd vom einem Bären getötet, Jahre darauf stirbt auch die Mutter. Die Brüder müssen sich gegen die Zumutungen der Obrigkeit wehren, so sollen sie auf Befehl des Propstes sogar lesen und schreiben lernen! Sie beschließen, im Wald ein freies Leben zu führen. Zankend, raufend, fluchend und einander mit verrückten Einfällen übertreffend, schaffen sie es, in der Ödmark eine neue Existenz aufzubauen, um schließlich - geläutert oder nur, weil sie sich bewiesen haben, dass sie wie echte Finnen leben können? - in den Schoß der Zivilisation zurückzukehren.
Dieser fast 150 Jahre alte Roman wirkt heute noch wunderbar frisch, er ist archaisch und modern zugleich. Mit der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts hat er wenig zu tun, weder mit der Romantik noch mit dem bürgerlichen Realismus, in einigen Passagen mag er an die besten Werke des literarischen Naturalismus erinnern. Aleksis Kivi bedient sich einer Erzähltechnik, die der eines Filmregisseurs gleicht (nur war der Film noch gar nicht erfunden): Er schneidet Szenen an- und ineinander, die mal in die Totale gehen, dann wieder ganz nah an das Geschehen heranzoomen, kontert Landschaftsaufnahmen mal mit Dialogen, mal mit Actionsequenzen, kombiniert Burleskes mit Mythischem.
Das alles, dazu der derbe Humor und die volksnahe Sprache, kann heute begeistern - dabei kam der Roman bei der Literaturkritik 1870 in Finnland gar nicht gut an. Besonders der Universitätsprofessor August Ahlqvist hatte sich auf Kivi eingeschossen und schaffte es, dass der durch ein Nervenleiden und Alkoholismus geschwächte Autor den Siegeszug seines Romanes nicht mehr erleben konnte. Aleksis Kivi starb in der Silvesternacht des Jahres 1872.
Gisbert Jänicke hat uns - nach den Übersetzungen von 1921 und 1962 - eine neue, lebendige deutsche Version der »Sieben Brüder« geschenkt. Hervorzuheben ist sein Nachwort, das faktenreich von der menschlichen Tragik und dem literarischen Triumph des Aleksis Kivi erzählt.
Aleksis Kivi: Sieben Brüder. Verlag Jung und Jung. 435 S., geb., 29,90 €.
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