Rot-Rot-Grün will V-Leute in Thüringen abschalten
Sondierer einigen sich auf Konsequenzen aus NSU-Mordserie / Kennzeichnungspflicht für Polizisten und Verbot von »Racial Profiling« / Linke: »Meilenstein für Demokratie, Bürgerrechte und Antifaschismus«
Berlin. In Thüringen haben sich Linkspartei, SPD und Grüne auf eine weitreichende Reform des Verfassungsschutzes geeinigt. Das dortige Landesamt soll dann auf den Einsatz eigener V-Leute verzichten. Auch sollen keine neuen V-Leute mehr angeworben werden. Ausnahmen soll es lediglich im Fall dringender Terrorismusbekämpfung geben - dann aber müssten Parlamentarische Kontrollkommission des Landtages, der Innenminister und der Ministerpräsident eingebunden werden. Ob die Abschaltung der V-Leute die Arbeit des Verfassungsschutzes zu stark beeinträchtigt, solle nach zwei Jahren überprüft werden, hieß es.
Die Linkspartei hatte die komplette Abschaffung des Landesamtes für Verfassungsschutz gefordert. Im Vorfeld der rot-rot-grünen Sondierungen hatte die Thüringer Parteispitze um Susanne Hennig-Wellsow allerdings signalisiert, sie sei sich darüber im Klaren, dass dies nicht schon in den nächsten fünf Jahren erreichbar sei. Die SPD hatte sich sowohl für den Fortbestand des Inlandsnachrichtendienstes als auch für die Beibehaltung der V-Leute ausgesprochen. Die nun gefundene Regelung entspricht am weitestgehenden einem Vorschlag der Thüringer Grünen vor einigen Monaten. In der damaligen Debatte um die Novelle des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes hatten sie bereits gefordert, die V-Leute testweise abzuschalten und die Folgen dieses Schritts zu prüfen.
Die Landesvorsitzende der Linken in Thüringen, Hennig-Wellsow, sprach nach der fünften Sondierungsrunde von einem »Meilenstein für Demokratie, Bürgerrechte und Antifaschismus«. Es gebe Konsens darüber, das V-Leute-System zu beenden. Die mit SPD und Grünen verabredeten Maßnahmen seien »nicht weniger als ein Grundrechte-TÜV, dem der Thüringer Verfassungsschutz unterzogen werden soll«. Eine rot-rot-grüne Landesregierung würde zudem eine »Expertenkommission berufen, die über die Notwendigkeit und die zwingenden Anforderungen an einen grundrechtesensiblen Verfassungsschutz berät«. Auch wenn das Landesamt zunächst nicht aufgelöst werde, könne Thüringen »Vorreiterland bei der Kontrolle der Geheimdienste« werden.
Einigung wurde bei der Sondierung auch über zahlreiche demokratie- und innenpolitische Punkte erzielt. So würde Rot-Rot-Grün das Wahlalters auf Landesebene auf 16 Jahre absenken, den Personalabbau bei der Thüringer Polizei stoppen, eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte in geschlossenen Einheiten angehen und das viel kritisierte »Racial Profiling« gesetzlich ausschließen. Auch die Möglichkeiten der direkten Demokratie in Thüringen will Rot-Rot-Grün ausweiten.
Ein ganzer Unterpunkt der rot-rot-grünen Vereinbarungen widmet sich den Konsequenzen aus der Mordserie des rechtsradikalen Netzwerkes NSU, das seine Wurzeln in Thüringen hatte. So habe man sich auf »eine grundsätzliche Revision und Neuausrichtung der Sicherheitsarchitektur im Freistaat« geeinigt, hieß es aus Verhandlungskreisen. Rechtsradikale Organisationen erwartet eine »entschiedene Verbotspraxis«, heißt es bei Rot-Rot-Grün. Geplant ist zudem eine Dokumentationsstelle für Menschenrechte, Grundrechte und Demokratie, die schwerpunktmäßig neonazistische Aktivitäten wissenschaftlich untersuchen und Gegenkonzepte erarbeiten soll. Im Rahmen einer Enquete-Kommission des Landtages sollen mit Experten und der Zivilgesellschaft darüber hinaus »Konzepte für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung« erarbeitet werden. Die Parteien wollen auch Sorge dafür tragen, dass der Untersuchungsausschuss zur NSU im Landtag fortgeführt wird.
»Die Parteien sind sich einig darin, den Opfern des NSU-Terrors in Thüringen noch in dieser Legislaturperiode eine Stätte der Erinnerung und Mahnung zu errichten«, heißt es aus Sondierungskreisen weiter. Dabei sollen die Angehörigen der Opfer einbezogen werden. »Ein gesellschaftlich breit getragener und würdiger Gedenkort für die Toten, deren Mörder aus Thüringen kamen, soll und wird eine notwendige Debatte über rassistische Einstellungen sowie Denk- und Handlungsmuster befördern.«
Am Donnerstag treffen sich SPD und CDU zu einer vierten Sondierungsrunde. Dabei soll es um die künftige Energiepolitik in Thüringen gehen. Beide Parteien wollen die erneuerbaren Energien weiter ausbauen. Es gehe dabei aber auch um strittige Themen wie der mögliche Bau eines Pumpspeicherwerks an der Schmalwasser-Talsperre bei Tambach-Dietharz, eine weitere Stromtrasse durch Thüringen oder Windräder in Waldgebieten, hieß es aus Kreisen beider Parteien.
CDU und SPD loten bei dem Treffen erneut die Chancen für eine Fortsetzung der seit 2009 bestehenden schwarz-roten Koalition aus. Weitere Themen am Donnerstag sind Umwelt-, Landwirtschafts- und Europapolitik. Die SPD, ohne die es trotz ihres Einbruchs bei der Landtagswahl keine Regierung in Thüringen geben kann, führt Sondierungsgespräche parallel auch mit Linke und Grünen. Sowohl Schwarz-Rot als auch Rot-Rot-Grün haben im Landtag nur eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. nd/mit Agenturen
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.