Das leise Sterben von Perm-36
Der Memorial-Vorsitzende Robert Latypow über das Gulag-Museum und seine bedrohte Menschenrechts-Organisation
Über das Gulag-Museum Perm-36 gab es verwirrende Nachrichten. Wurde es geschlossen, doch nicht geschlossen, abgeschafft - oder besteht es weiter?
Formal arbeitet das Museum. Im vergangenen Jahr wurde eine staatliche Einrichtung geschaffen unter der Bezeichnung »Gedenkkomplex politischer Repressionen«. Diese Bezeichnung ist wohl ein dummer Fehler der Bürokratie, aber ein sehr bezeichnender. Denn das Lager wurde traurig bekannt, weil dort in den 1970er und 1980er Jahren Dissidenten inhaftiert waren. Aber laut dem Föderationsprogramm sollte ein Museum des Gulag entstehen. Der Hauptakzent wird nach wie vor auf das Schicksal der Opfer der Stalinschen Repressionen gelegt, die in den Gulag gerieten. Natürlich ist ein Teil der Ausstellung auch weiter den Dissidenten gewidmet.
Die inoffizielle Bezeichnung war immer »Museum des Gulag«. Es sollte eine Ort sein, an dem es um die wirtschaftliche Bedeutung des Gulag ging. Es gab Millionen Opfer. Das Museum sollte beantworten, wie der Gulag funktionierte und wie es den Menschen erging.
Der Historiker Robert Latypow, 41 Jahre, ist seit 2010 Vorsitzender der Permer Abteilung von Memorial International und Ko-Vorsitzender der Jugendorganisation. Memorial wurde 1988 von Andrej Sacharow zur Aufarbeitung des Stalinismus und zur Unterstützung seiner Opfer gegründet. Mit dem russischen Menschenrechtler sprach Klaus Joachim Herrmann.
Was hat sich nun verändert?
Jetzt wurde mit Memorial die gesellschaftliche Organisation, die sich 20 Jahre damit beschäftigte und verschiedenste Projekte verwirklichte, einfach weggeschickt. Ihre Mitarbeiter schufen das Museum. Sie kümmerten sich um Restaurierung, Erhalt und Reparaturen. Nun sind sie auf dem ganzen Gelände des Gedenkkomplexes nicht mehr zu finden. Der ist jetzt eine staatliche Einrichtung. Deren Direktor hat die Bewacher angewiesen, die Mitarbeiter nicht mehr auf das Gelände zu lassen.
Das heißt, die eigentlichen Schöpfer des Museum gibt es einfach nicht mehr?
Formal schon. Es werden Gespräche geführt. Es wird ein gesellschaftlicher Rat unter Leitung von Wladimir Lukin, dem früheren Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung, gebildet. Partnerschaftlich soll über die Konzeption und das weitere Vorgehen der Regierung des Permer Gebietes und der gesellschaftlichen Organisationen beraten werden.
Doch viele meiner Kollegen und ich sind äußerst pessimistisch, dass dieser Rat eine Verbesserung bringt. Fakt ist, alle Besuchsprogramme sind eingestellt. Alle Restaurationsarbeiten sind gestoppt und niemand weiß, wann sie wieder aufgenommen werden. Exkursionen und alle Tätigkeiten, die Museen auszeichnen, sind auf Null gebracht. Es gibt nur noch einen Mitarbeiter für die Führungen und das nicht für jeden Tag. Formal gibt es das Museum noch, aber es arbeitet nicht.
Faktisch ist das Museum also doch geschlossen, es stirbt nur leise?
Es wird überführt in eine drittklassige, wenig bekannte und provinzielle Einrichtung. Es wird unbemerkt und unauffällig werden. Warum aber sollte man dann noch dorthin gehen, wenn nichts geschieht? Ein Museum muss durch reales Geschehen Besucher herbeirufen können, auf sich aufmerksam machen. Wenn es das nicht gibt, stirbt es einfach.
Geschlossen wird das Museum, das es früher gab. Das kommt nicht wieder. Die Gebietsführung will aber keinen weiteren Skandal riskieren. Sie hatte einen großen und will keine politischen Punkte mehr verlieren. Nun will sie es auch nicht so ganz sauber machen, aber wenigstens so, wie es geht. Moskau handelte sich wegen Perm-36 Kritik ein. Nun heißt es, man sei mit dieser gesellschaftlichen Organisation unzufrieden und betreibe die Gedenkstätte als staatliche Einrichtung.
Ist das vielleicht ein Hinweis darauf, welches Schicksal die Gesellschaft Memorial treffen könnte?
Das wäre ein ganz großer Traum für die Verantwortlichen auf regionaler und föderaler Ebene, das wäre für sie ganz wunderbar. Je weniger sich Memorial mit den Opfern des Terrors und vor allem den heutigen Verletzungen der Menschenrechte beschäftigt, um so ruhiger können sie leben.
Sie haben verstanden, dass unter Präsident Putin eine Zeit gekommen ist, in der man vor allem die eigene Karriere gestalten und daraus Nutzen ziehen kann. Unnötige Skandale, unnötige Signale an das föderale Zentrum, dass irgendwer hier unzufrieden ist, braucht man nicht. Das ist ein primitives Denken und es werden primitive Methoden angewandt.
Welche?
Von der Sowjetzeit unterscheiden uns lediglich die Technologien des Kampfes gegen nichtstaatliche Organisationen, NGO wie unsere. Es werden Finanzierungen eingefroren, Vereinbarungen gebrochen. Wir schlagen Projekte vor und begründen, dass sie wichtig sind und in Übereinstimmung mit der staatlichen Politik stehen. Wir können sie bedeutend effektiver, preisgünstiger verwirklichen als irgendwelche Unternehmer. Wenn wir Gespräche wollen, sagt man sie uns zu. Aber dann gibt es keine Einladung. Oder sie werden verschoben. Einen Tag, eine Woche, einen Monat, drei Monate ...
... und in Moskau geht man den juristischen Weg?
Überprüfungen gibt es jedes Jahr. Man versucht, Dossiers zu fabrizieren, dass mit der Organisation nicht alles so ganz sauber ist. Das staatliche Geld werde nicht effektiv verwendet. In periodischen Abständen werden juristische Vorwürfe erhoben. Das geht bei Perm-36 seit anderthalb Jahren so. Was Jugend-Memorial Perm betrifft, gab es einen Prozess, den wir gegen die Staatsanwaltschaft gewonnen haben. Gegen Memorial Perm werden derzeit keine offiziellen Forderungen mehr erhoben.
Aber anderswo?
Es gibt in Russland viele juristische Personen mit dem Markenzeichen Memorial. Allein in Moskau sind es mehrere. In Moskau gibt es auch die Russische Gesellschaft Memorial, die eine ganze Reihe von regionalen Organisationen vereinigt. Hier ermittelt das Ministerium für Justiz, in wieweit die Bezeichnung örtlicher Organisationen bedeutet, dass sie Abteilungen der Russischen Gesellschaft Memorial sind. Perm gehört zur Internationalen Organisation Memorial. Das ist eine andere juristische Person, deren Mitglieder aus Russland, der Ukraine, Kasachstan, Italien, Frankreich und auch aus Berlin in Deutschland stammen.
Das Moskauer Zentrum für Menschenrechte unter Führung von Oleg Torlos wurde beschuldigt, ausländischer Agent zu sein. Der Prozess läuft.
Die Gefahr, als Agent eingestuft zu werden, besteht für alle?
Natürlich. Das Gesetz gegen ausländische Agenten soll sogar noch verschärft werden. Wenn es Putin gesagt und die Duma das Gesetz angenommen hat, dann muss es auch angewandt werden. Wo aber sind die ausländischen Agenten? Auf der Liste stehen fünf Organisationen, und davon haben bereits vier aufgehört zu existieren. Sie wurden einfach geschlossen, beispielsweise die »Assoziation Golos« (Stimme) zum Schutze der Rechte der Wähler, eine Umweltorganisation, eine gesellschaftliche in Kostroma. Die Abgeordneten haben doch so hart gearbeitet, so gründlich nachgedacht und das Gesetz wird doch nicht erfüllt. Da wurde ihnen signalisiert, dass es ›vervollkommnet‹ werden müsse.
Welche Versuche, Einfluss zu nehmen, gibt es denn nun aus dem Ausland - aus der Bundesrepublik zum Beispiel?
Keine. Zur Finanzierung von Projekten nehmen wir teil an Ausschreibungen von Sponsoren, von gemeinnützigen Fonds. Das ist eine normale internationale Praxis. Unlängst haben wir den Wettbewerb eines Fonds gewonnen, in dem der größte Akteur die deutsche Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« ist. Eines ihrer Programme ist der sozialen Unterstützung von Naziopfern gewidmet.
Wir erweitern zur Zeit in Perm den Kreis jener, die von unserem freiwilligen Sozialdienst Hilfe erhalten. Wir begannen, nicht mehr nur die Opfer der Repression zu unterstützen, sondern zu jenen alten und kranken Menschen nach Hause zu gehen, die als Minderjährige in die faschistischen Konzentrationslager verschleppt worden sind, Opfer der Blockade Leningrads waren, die in Ghettos leben mussten, Zwangsarbeit leisteten.
Wir fragen die Verantwortlichen, ob diese Projekte nötig sind, und erhalten als Antwort: Natürlich, unbedingt! Wir sind in der Region, möglicherweise im ganzen Ural die einzige Organisation, die überhaupt solche Projekte verwirklicht. Dann aber sagen sie, es sei vielleicht nicht gut, internationale Hilfe anzunehmen. Aber wo gibt es bei uns in Russland ein Programm, mit dem solche Projekte finanziert werden?
Hat sich die Lage von Memorial verschlechtert?
Seit dem Jahr 2012 mit dem Gesetz über die ausländischen Agenten.
Warum wurde es denn in genau diesem Jahr angenommen?
Putin hatte im ersten Anlauf die Wahlen gewonnen und verstanden, jetzt kann ich handeln. Bei solch einem Ergebnis kann ich alle unpopulären Entscheidungen durchsetzen. Die erste war die Einschränkung des Demonstrationsrechtes. Es wurde eine bürokratische Prozedur eingeführt, die Barrieren aufrichtet. Das zweite war das Gesetz über ausländische Agenten. Dann die Einführung einer Zensur der russischen sozialen Netze im Internet. Hinzu kam eine verdeckte Zensur der Massenmedien. Das verursachte Skandale, doch wurde es von ihm stillschweigend fortgesetzt.
Dann kam der Krieg in der Ukraine.
Ich weiß nicht, wer in 20 oder 30 Jahren die russischen Geschichtsbücher schreiben wird. Doch wenn es ehrliche Historiker sein werden, zum Beispiel die am Osteuropainstitut der Universität Bremen, dann müssen sie über den Februar des Jahres 2014 schreiben. Es war die Zeit der Olympiade in Sotschi und des Beginns des Krieges in der Ukraine, als auf dem Maidan Blut vergossen wurde.
Was hat das für Russland bedeutet?
Es begann für unser Land ein neuer Zeitabschnitt. In zwei Wochen haben die offiziellen Massenmedien unsere Gesellschaft zum Zombie gemacht, sie haben sie erschüttert. Ihre Nachrichten lassen sich so zusammenfassen: die Siege bei der Olympiade und dagegen die furchtbaren Bilder aus der Ukraine. Seht Putin, der dagegen ist, der für Janukowitsch ist und dafür, dass die Schulden bezahlt werden. Dort bringt man sich gegenseitig um, aber wir sind so gut. Wir schicken humanitäre Hilfe und wollen nur den Frieden. Die Sanktionen sind auch nicht schlimm. Putin hat gesagt, sie entwickeln unsere Wirtschaft. Es zeigt sich, was für wunderbare Führungspersönlichkeiten Russland hat.
Und was bedeutete es für die Menschen?
Verwandte und einander nahe Menschen begannen, miteinander in verschiedenen Sprachen zu reden. Ihre Beziehungen änderten sich wegen ihrer unterschiedlichen politischen Standpunkte. Kritische Menschen wurden immer weniger, eine immer größere Zahl von klugen und hoch gebildeten wurde »putinisiert« - ich finde kein anderes Wort.
Haben Sie das auch in Ihrer nächsten Umgebung erlebt?
Eine alte Bekannte, Hochschullehrerin und promovierte Philosophin, eine kluge Frau, fragte mich, ob ich schlafe. Ich müsse doch sehen, wie das Land erwache, und ob ich nicht erkenne, wie eine fünfte Kolonne uns die Freiheit und die Liebe zur Heimat nehmen wolle. Das sind Konflikte, die bis in die Familien reichen - zwischen Eltern, Töchtern und Söhnen.
In nur zwei Wochen begann der patriotische Chauvinismus. In den Städten gab es Demonstrationen der Ergebenheit gegenüber unserer Führung wie nach den schlimmsten Szenarien der sowjetischen Periode. Ich dachte, wir hätten das hinter uns. Im Gegenteil. Mir scheint, vielen Menschen geht es wie beim Trinken. Wenn du sehr viel trinkst, geht es dir am nächsten Tag schlecht. Der Kopf tut weh, du bist schwach, willst nichts tun. Dann trinkst du wieder, damit es leichter wird.
Aber Memorial macht weiter?
Ich bin nicht sehr optimistisch. Das ist auch schwer bei der Arbeit für Memorial zu diesen Themen und unter diesen Umständen. Aber wir haben auch kleine Erfolge. In unserer Organisation gibt es viele sehr interessante Menschen. Und es kommen Freiwillige zu uns. Keine Schüler und Studenten wie früher häufig, sondern Leute von 30 und 40 Jahren. Wenn du mit ihnen über Politik reden willst, sagen sie: Nein Robert, das muss nicht sein. Ich bin bereit, einer Großmutter zu helfen, ich bin bereit hier und dort zu helfen.
Menschen kommen ganz bewusst zu Memorial, weil sie wissen, hier gibt es konkrete Arbeit, konkrete Hilfe für konkrete Menschen. Ich arbeite in irgendeinem Büro, aber ich arbeite auch für Memorial. Das gibt ihnen eine moralische Genugtuung. Es werden aber weniger; viele wollen - ein grobes Wort - abhauen. In zwei Jahren sind sechs Freiwillige mit ihren Familien ausgereist. Nach England, nach Deutschland. Junge Leute, jünger als ich. Ein Frau sagte mir: Ich bin müde, hier weiter zu kämpfen.
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