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Narcisse und sein Retter
François Garde: Spannende Robinsonade und Zivilisationskritik
1843 befährt ein französisches Schiff die Route von Kapstadt nach Java. Stürme und andere Unbill verzögern die Fahrt, ein Schiffsjunge ist gestorben, andere Besatzungsmitglieder sind krank, Trinkwasser wird knapp. Der Kapitän lässt an einer Bucht im Norden Australiens ein paar Matrosen an Land gehen, um Wasser zu suchen. Nachher fehlt einer: Narcisse Pelletier. Sie suchen den Achtzehnjährigen nicht mehr, als sie witterungsbedingt absegeln müssen. So weit die historischen Fakten, die François Garde zu seinem Roman inspirierten. Er fügt der Überlieferung den Entdecker und Wissenschaftler Octave de Villombrun hinzu, der 18 Jahre später in Sidney die Obhut über diesen Narcisse übernahm, den ein englisches Schiff »befreit« hatte.
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* François Garde: Was mit dem weißen Wilden geschah. Roman. A. d. Franz. v. Sylvia Spatz.
C.H.Beck. 318 S., geb., 19,95 €.
Narcisse - hätte nicht das historische Vorbild diesen Namen getragen, welch ein Einfall! - hatte die Lebensgewohnheiten der Aborigines vollständig angenommen und seine früheren vergessen. Er beherrschte seine Muttersprache nicht mehr, er war ein Kind der Natur geworden, lief unbekleidet, hatte keine Ahnung von Abstraktion, kannte weder die zukunftsweisende Bedeutung des Futurs noch den christlichen Gott.
Garde erzählt die Geschichte von Anfang und Ende zugleich: Er erzählt, wie es Narcisse bei den »Wilden« erging, wie er sich einlebte und seine Fluchtgedanken aufgab. Abwechselnd damit lässt er Octave in Briefen an den Präsidenten der Pariser »Société de Géographie« über die Fortschritte Narcisses bei der Reintegration in die Zivilisation berichten, die nie vollständig gelang. Octave nimmt Narcisse mit nach Frankreich, bringt ihn zu seinen Eltern, denen vor 18 Jahren eine Todesnachricht überbracht worden war, muss die Neugier von Wissenschaftlern befriedigen und besorgt ihm schließlich eine Stelle am Leuchtturm auf der Île de Ré.
Der 1959 geborene Autor war lange hoher Verwaltungsbeamter im französischen Territorium Neu-Kaledonien. Für sein spätes erzählerisches Debüt erhielt er 2012 den »Prix Goncourt du premier Roman«. Er verbindet eine spannende Robinsonade mit zivilisationskritischen Überlegungen. Der Bericht vom Angriff eines australischen Sträflings auf Narcisse erinnert an Kleists »Marionettentheater«: Wie der Bär bei Kleist jede Finte des Fechters erkennt, weicht Narcisse allen Schlägen des »weißen« Australiers instinktiv aus.
Der Roman lädt anhand der Geschichte vom zweimaligen Verlust von Identität, Sprache und zivilisatorischer Zugehörigkeit zum Weiterdenken ein. So extrem wie bei Narcisse werden die Verluste bei »freiwilligen« Migranten der Gegenwart selten sein. Dass es aber Jahre braucht, um sich auch nur verständlich zu machen, dass es vielleicht nie gelingt, glücklich zu werden, dass die aufnehmende Gesellschaft bei bestem Willen - Octave hat ihn auch mit hohen materiellen Opfern gezeigt - mit mehrfach entwurzelten Menschen kaum umgehen kann, das alles geht dem Leser durch den Kopf, wenn er das kurzweilig geschriebene Buch aus der Hand legt. Welch zentrale Bedeutung in Frankreich die Sprache hat, wird an der Erinnerungsmauer deutlich, die Narcisse immer dann errichtet, wenn ihn Octave nach seinem Leben bei den »Wilden« befragt. Narcisse erklärt seine existenzielle Not mit dem Wort »Reden ist wie sterben«. Also: Erinnerung schweig!
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