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Der Kampf um den Kopf
Ray Kurzweil lüftet das Geheimnis des menschlichen Denkens
Einen (Macht-)Kampf um die Köpfe gab es schon immer. Im guten wie schlechten Sinne, mal als Aufklärung, mal als Manipulation. Dennoch ist das Instrumentarium dafür bis heute wenig effizient und wirkungsmäßig schlecht kalkulierbar. Selbst in der Werbebranche spottet man deshalb gern, dass die Hälfte des eingesetzten Geldes immer rausgeschmissen sei; man wisse vorher allerdings nie, welche Hälfte. Warum das so ist? Vor allem, weil man (noch) nicht genau weiß, was wie im Kopf der Menschen vorgeht, also wie das Gehirn funktioniert, der Geist tickt, sich Wille, Überzeugung, Glaube, Moral usw. herausbilden.
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* Ray Kurzweil: Das Geheimnis des menschlichen Denkens – Einblicke in das Reverse Engineering
des Gehirns.
Lola Books. 328 S., br., 24 €.
Dieser Kampf um die Köpfe spielt in Ray Kurzweils »Das Geheimnis des menschlichen Denkens« nirgendwo direkt eine Rolle. Sein neues Buch kommt vielmehr als laborsaubere, unpragmatische aktuelle internationale Zwischenbilanz der Gehirnforschung daher. Was konkrete Auswirkungen eines Sieges in diesem Kampf um den Kopf angeht, belässt es Kurzweil ganz allgemein bei der Feststellung, es gehe darum, »unser Arsenal an Techniken zur Schaffung intelligenter Systeme zu vergrößern«. So viel Zurückhaltung macht stutzig und misstrauisch. Denn der Autor ist nicht nur ein brillanter Erfinder und einer der US-Spitzenexperten für Künstliche Intelligenz, sondern auch Cheftechnologe bei Google, und nicht zuletzt gehört er zum Führungsquintett der Science Advisor Group der US-Army.
Das Buch behandelt ausführlich, dabei aber faktisch sehr konzentriert, die wissenschaftliche Grundannahme, auf deren Basis das Unternehmen Google selbst sein jüngstes milliardenschweres Brain-Projekt vorantreibt. Die »Mustererkennungstheorie des Geistes« (PRTM) beschreibe, so Kurzweil, den grundlegenden Algorithmus des Neocortex. Und eben dieser Algorithmus kombiniert mit dem vom Autor postulierten »Gesetz des steigenden Ertragszuwachses« (LOAR) - vereinfacht gesagt: das sich objektiv unablässig exponenziell verbessernde Preis-Leistungs-Verhältnis von Informationstechnologien - werde »die Fähigkeit unserer Intelligenz immens ausweiten«. Im vorletzten Kapitel sind einige gravierende Einwände zusammengefasst, die Ray Kurzweil von prominenter Seite (u.a. Microsoft-Mitbegründer Paul Allen) seit Jahren erfährt sowie dessen geschliffene Repliken.
Tatsächlich ließe sich mit dem faustischen Wissen aus dem enthüllten Geheimnis menschlichen Denkens höchst gewinnbringend technologisch operieren: bei Computern und in der Robotik, in der Medizin und beim Militär. Aber wie schon eingangs bemerkt: Wer weiß, wie das Gehirn funktioniert, weiß nicht nur, wie man organische Intelligenz simulieren, sondern auch, wie man sie am besten manipulieren kann. Soll nun später keiner sagen, man habe ja nicht geahnt, wohin das alles führe (Stichwort: heutige Orwellsche Überwachungswelt)! Ray Kurzweil hat es - ohne es konkret zu benennen - ausführlich aufgeschrieben. Auch deshalb empfiehlt sich dieses Buch für die Zivilgesellschaft ausdrücklich.
Übrigens: Als Nagelprobe dafür, dass ein Computer mit dem menschlichen Gehirn gleichgezogen hat, gilt der Turing-Test. Ein Mensch kommuniziert mit zwei anonymisierten Intelligenzen, einem Menschen und einem Computer. Beide wollen ihn überzeugen, dass hinter ihnen jeweils ein denkender Mensch steckt. Kann der Tester keinen signifikanten Unterschied entdecken, wird unterstellt, dass der Computer dem Gehirn ebenbürtig geworden ist. Ray Kurzweil sagt das für 2029 voraus. Und er hat schon Mitte der 80er Jahre in Artikeln sowie in seinem Buch »The Age of Intelligent Machines« mit technologischen Prognosen (u. a. weltweites »Internet« Mitte bis Ende der 90er Jahre) ebenso wie mit politischen (u. a. Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre) recht gut gelegen.
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