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«Innere Freiheit zu erringen»
Notizen aus der Sowjetunion: Bisher Unveröffentlichtes von Christa Wolf
Willkommene Lektüre für alle, die Christa Wolf verehren, denn diese Texte kannten sie noch nicht. Ebenso wohl für jene, die einst selbst mit der Sowjetunion verbunden waren und sich an Reisen erinnern. Für Leute, die sich überhaupt nicht für den Osten und seine Vergangenheit interessieren, suche man besser ein anderes Geschenk.
«Wer wir sind und wer wir waren» - der Untertitel trifft. Wie waren wir, was hat sich verändert in uns? Dabei ist es ein Zitat aus Pasternaks Roman «Doktor Schiwago». So einzigartig unsere Erfahrungen sein mögen, auch frühere Generationen hatten mit Umbrüchen zu tun, schmerzhafteren meist. Niemand kann sich die Umstände aussuchen, in die er hineingeboren wird. Ändern konnte auch eine Christa Wolf nichts am Lauf der Dinge. Aber sie hat sich, anders als die meisten Autoren heute, die großen Fragen der Zeit in die Seele geholt. Wie gut, dass sie dabei ihren Mann Gerhard Wolf an ihrer Seite wusste. Sie mochte sich in sich selbst zergrübeln, aber musste nicht in sich eingeschlossen sein. Er stand ihr bei auch im Konkreten, wenn zum Beispiel in Moskau innerhalb weniger Stunden ein Majakowski-Vortrag von ihr erwartet wurde. In der Pflicht sah er sich noch über ihren Tod hinaus.
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* Christa Wolf: Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren. Reisetagebücher, Texte, Briefe, Dokumente 1957- 1989. Hg. v. Gerhard Wolf unter Mitarb. v. Tanja Walenski. Suhrkamp.
267 S., geb., 22,95 €.
Als Herausgeber legt Gerhard Wolf nun die Tagebücher von zehn Reisen in die Sowjetunion vor, die seine Frau, allein oder mit ihm zusammen, unternahm. Dazu jeweils ein Resümee aus seiner Feder sowie ergänzendes Material - Aufzeichnungen von Reisegefährten wie Brigitte Reimann und Max Frisch, Briefe von und für Christa Wolf, Texte von ihr, die mit Reisen im Zusammenhang standen, zum Beispiel ein Interview mit Konstantin Simonow, der für die Schriftstellerkollegin die Maske des Berühmten fallen ließ und zu ihrer Nachdenklichkeit in Resonanz ging. Vierzig Jahre - von 1957 bis 1997 - in mitfühlend genauen Beobachtungen in diesem Riesenland, wo die Menschen in ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben immer wieder gedemütigt wurden.
Im sowjetischen Schriftstellerverband spricht sie am 9. Oktober 1989 «von den Ereignissen in Berlin - Massenflucht, Oppositionsbewegung, Demonstrationen, Verhaftungen. Boris: Aber was wollen die Leute! (Diese Frage, die sich dann oft wiederholen wird.) Ich: Glasnost! Er: Wir haben Glasnost, aber nichts zu essen. Also tauschen wir doch. (Daran kann man die Menschen hier erkennen: Ob sie Glasnost u. Demokratie gegen Lebensmittel hergeben würden).»
Anlass jener Reise war, dass Christa Wolf von Tschingis Aitmatow in den neu zu gründenden Redaktionsbeirat der Zeitschrift «Inostrannaja Literatura» eingeladen worden war. Irgendwie standen die Reisen immer in literarischem Kontext. Denn Christa Wolf nahm die Gedanken an ihre Bücher mit. «Eine Geschichte spukt mir im Kopf herum ..., notierte sie am 21. Juni 1957, als sie das erste Mal, noch als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schriftstellerverband, mit einer Delegation von Autoren Moskau und Armenien besuchte. So kam es zu ihrem literarischen Debüt, der »Moskauer Novelle« 1961, von der man nun erfährt, dass Gespräche mit dem Verbandsfunktionär Wladimir Ste-shenski daran Anteil hatten.
Seltsam, so ein Buch zu lesen, wenn man viele der genannten Personen kennt und noch vor sich sieht: Lidija Gerassimowa und Boris Kalinin waren auch bei meinen Reisen mit Autorendelegationen ab 1972 dabei. Ebenso wie Christa Wolf besuchte ich Juri Trifonow, Wladimir Tendrjakow, nur eben später.
Erst 1990 wurde ich mit Lew Kopelew bekannt, mit dem die Wolfs schon ab Ende der 60er Jahre befreundet waren, als seine Wohnung in Moskau ein Treffpunkt von Dissidenten gewesen ist. Auch als Kopelew aus der Sowjetunion ausgebürgert worden war, ließen sie die Verbindung nicht abreißen, wohl wissend um Überwachung und eventuelle Folgen. Kopelew sei es gelungen, »eine innere Freiheit zu erringen, die auf alle ausstrahlte, die ihm begegneten«, sagte Christa Wolf 1997 in ihrer Totenrede für ihn. »Wie andere ein absolutes musikalisches Gehör haben, hatte er einen absoluten Sinn für Anstand und Menschlichkeit.«
Fragen, die auch sie selbst betrafen: »Welches sind die Kriterien für ›Menschlichkeit‹ in unserer Zeit?«, das überlegte sie schon 1957 bei ihrer ersten Reise. »Was ist also der Grundstein für die bessere Gesellschaft?« Ganz unverstellt, offen ist sie da noch. Noch? Nein, das blieb sie wahrscheinlich immer, aber sie wurde verletzt und wusste um ihre Verletzlichkeit. Sie lernte, sich zu schützen. Und kämpfte die ganze Zeit darum, sie selbst zu sein. Mit feinen Antennen nach außen, die ideologische Vereinnahmung registrierten, aber mehr noch nach innen.
»Diese verdammte Wahrheitsfrage«, schreibt sie 1992 in einem Brief an den Literaturwissenschaftler Efim Etkind (wegen seines Einsatzes für Solschenizyn und Brodsky 1974 ausgebürgert). »Wie kommt es, daß, je näher man an ›die Wahrheit‹, das heißt an sich selber, die multiplen Wesen in sich und besonders an jenes Wesen herangeht, mit dem man sich am wenigsten identifizieren möchte: Wie kommt es, frage ich, daß sich in den Text, der sich auf die Spur dieses Wesens und seiner Wahrheit begibt, auf dem Weg vom Kopf über die Hand aufs Papier immer ein Hauch von Unaufrichtigkeit einschleicht?«
Da fühlt sie sich missverstanden, geradezu beleidigt, wenn Leute sie auf die »Ja-Nein-Frage«, das Für oder Gegen festlegen wollen. Besonders deutlich wurde ihr das in den 43 Bänden Stasi-Akten. »Mich kränkt die Banalisierung und Trivialisierung unseres Lebens in diesen unsäglichen IM-Berichten …«
Doch wie auf Differenzierungen bestehen, wenn die Öffentlichkeit schon so an Vereinfachungen gewöhnt ist wie heute? »Nach einem trockenen und überwindigen Plätzchen habe ich mich ja nie gesehnt«, schreibt sie 1969. Und vier Jahre später: »Denn ein Konflikt ist es eben doch, weil man doch ganz und gar identifiziert war - und bis zu einem gewissen Grad ist und bleibt - mit dem, was man, wollte man seinem literarischen Gewissen folgen, objektiv und nüchtern, fast wie ein Außenstehender beschreiben müßte.«
In einer Person »Motor und Notbremse sein«: Diese Zerrissenheit in der Verantwortung ist Ost-Erfahrung, die nicht nur verbindet, sondern auch trennt. Denn das Misstrauen der Macht dem Volk gegenüber nistete sich, nicht ohne Grund, in den einzelnen Menschen ein, ließ sie vorsichtig gegeneinander werden, sodass sie sich kaum verbünden konnten.
»Ich liebe Bücher, deren Inhalt man nicht erzählen kann«, schrieb Christa Wolf 1967 über Vera Inber. Auch diese Sammlung aus ihrem Nachlass ist so ein Buch.
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