Wahn und Witz
Im Kino: »Wild Tales« von Damián Szifron
Soll nachher keiner sagen, er sei nicht gewarnt gewesen: Schon nach den Anfangstiteln weiß man bei diesem Film ziemlich genau, was einen erwartet. Und das hat es in sich. Der deutsche Untertitel »Jeder dreht mal durch!« liefert eine in Sachen deutsche Untertitel schon gewohnt unsubtile, aber doch ziemlich akkurate Beschreibung dessen, was in diesen wilden Erzählungen gleich ein halbes Dutzend mal passieren wird - mit erheblichem Schaden an Personen und Sachwerten.
Argentiniens Entscheidung, »Wild Tales« für den Auslands-Oscar einzureichen, beruht aber wohl eher auf dem sensationellen Erfolg des Films im Inland - Superstar Ricardo Darín, hier als Held einer besonders gelungenen Episode zu sehen, ist dafür ja fast schon ein Garant - als auf einer Analyse seiner tatsächlichen Erfolgschancen bei der konservativen Academy. Ob die so viel bitterbösen und in manchen Episoden erkennbar sozialkritischen Wahnwitz mit einer Statuette ehren wird, ist eher fraglich. Außerdem ist »Wild Tales« wie die meisten Episodenfilme ein bisschen uneben in der Qualität - eine Episode über Reichtum, Korruption und die fatale Ausbeutung armer, aber schnell von Raffgier übermannter Abhängiger ist nicht nur filmisch unoriginell, sondern letztlich auch verzweifelt unkomisch.
Wo der Film gut ist, da ist er aber auch richtig klasse. Das fängt schon bei der schreiend komischen Sequenz noch vor den Titeln an. Ein Flugzeug, eine hübsche junge Frau, das übliche Gewirr, bis alles Handgepäck verstaut ist, und ein älterer Sitznachbar, der gern ein bisschen flirten möchte. Alles tausendmal gesehen und zunächst nicht weiter bemerkenswert. Bis sich im ihrerseits nicht ganz vermeidbaren Gespräch erweist, dass man einen gemeinsamen Bekannten hat - und damit nicht alleine steht. Es dauert keine drei Minuten, bis von da an alles radikal den Bach runtergeht - und das in einem Flugzeug. Womit »Wild Tales« der wahrscheinlich erste größere Film seit 9/11 ist, der sich derart brachiale Scherze mit einem passagierbesetzten Flugobjekt leistet.
Die explosive Zuschauerreaktion aber, dieses gleichzeitige entnervte Entsetzen und ungläubige Lachen, ist genau das, worauf der ganze Film abzielt. Man kann sich wiedererkennen in zumindest etlichen der handelnden Figuren. Der schnelle Ärger, wenn einem jemand blöd kommt, an einem Tag, an dem vielleicht sowieso etwas schief lief. Das leichtsinnige Auftrumpfen, wenn man schon glaubt, es ihm aber mal so richtig gezeigt zu haben. Die ohnmächtige Wut, die undurchsichtige Regularien, unrechtmäßige Zahlungsaufforderungen und überhebliche Behördenvertreter bei gleichzeitigem Fehlen einer erreichbaren Appellinstanz in jedem Staatsbürger hervorrufen könn(t)en - alles allgemeinmenschliche Aufwallungen.
Die Eskalation, zu denen der Film seine Handlungsstränge mit mal die Lachmuskeln strapazierender, mal schon fast grauenhafter Konsequenz führt, die vermeidet Otto Normalbürger im wirklichen Leben wohl nur durch tief verwurzelte Gesetzestreue, eiserne Disziplin, Verdrängung bis zum Magengeschwür oder einfach lebenserhaltende Feigheit.
Nicht so die handelnden Figuren hier: Bei Damián Szifrón rastet aus, wer einmal zu oft den kürzeren zog im Umgang mit anderen. Schlägt um sich, haut drauf, benimmt sich ganz grässlich daneben, ohne Rücksicht auf Verluste oder Schäden an, siehe oben, Personen oder Dingen. Dass die spanischen Almodóvar-Brüder koproduzierten, kommt da nicht wirklich überraschend. Wahrscheinlich las sich schon das Drehbuch so, dass man beim Lesen dauernd juchzte.
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