Im Namen der Neurose
Frank Castorf inszenierte am Residenztheater München Brechts »Baal«
Der Dschungel dampft. Eine Schweinehälfte wird gefickt. Dann vögeln Mann und Mann, die Umherstehenden schneiden mit Messern an ihnen herum - denn: Männer sind auch nur Schweine. Einer hat eine lange Fleischwunde am Bein, eine Frauenzunge löscht darin ihren Blutdurst. Baal? Kannibaal. The Doors dröhnen. Was wir an diesem Abend hören, ist das Treibgut der Schmerzenslaute. Was wir sehen, ist obszöner Voyeurismus. Was wir hier erfahren, ist zynische Menschenliebe bis auf die bleckenden Knochen. Ein Dschungelcamp mit scheppernden Flaschen, dunstigen Badestellen, wo die Spieler Text japsen, als seien sie geil auf Waterboarding mit sich selbst. Die Stones knattern melancholisch. Duftstoff aus Morphiumpfeifen versenkt den Zuschauerraum in einen nicht mehr zu tilgenden Nebelschleier. Alles und alle so dreckig nackt, so flehend ausgeliefert. Ein Festival der Brutalo-Barden. Immer zwischen Druck und Droge. Diese Menschen da wollen sich selber ein Idol sein und werden Idioten eines fremden Krieges.
Frank Castorf inszenierte am Münchner Residenztheater Bertolt Brechts »Baal«. Nach über zwei Stunden ist Pause. Danach ist die Bühne dunkler denn je, die Reihen im Saal aber sind licht. Wer bleibt, hat am Ende einen fast fünfstündigen Abend erlebt, den man möglicherweise nach zehn Minuten für erkannt, durchschaut hielt. So verspuckt und so verblutet und so verröchelt und so vergrinst und so verjault. Und so ausnahmslos dieser Dämmer auf der Bühne und fast nur Kino per Video. Aber es wirkt benebelnd nach, dieses psychisch Abnorme, diese Orgie der Verruchtheit - im Herz der Finsternis tobt der Kampf um den Platz an der Sonne am heftigsten!
Brechts Baal - in Asiens Tiefen. Aleksandar Denic baute eine genial verschachtelte, verblüffend verrottete, wüst verrumpelte Landschaft aus Opiumhöhle, Moskitonetzen, Soldatencamp, Vietcong-Unterschlupf, Bambusverhau sowie Sünden- und Saufpagode. Baal als Desparado im Koreakrieg, in Frankreichs Indochina-Aggressionen und im Vietnamkrieg Washingtons. »Apokalypse Now«. Joseph Conrad, Francis Ford Coppola, Frank Castorf - eine Ahnenreihe für dunkelste Befürchtungen. Unverstellte Fantasien in einem Geist, Rauschzustände in einem Körper, Schreckensenergien in einer Seele - das bildet den Boden für die ewige Wahrheit: dass eine unergründliche Dunkelheit in jedem Ich existiert. Viel giftiger Himmel, noch mehr giftiger Suff und noch mehr giftige Poesie. Baal schwängert und mordet, er stirbt am Ende, wie es sich gehört: elend. Er aast mit allem. Baal, die reine Bio-Dramatik: Bosheit, Geilheit, Trostlosigkeit - alles noch direkt vom Erzeuger.
Aurel Manthei in einer Badehose, die das locker sitzende Halfter für die Unterleibswaffe ist: ein Baal der wehen, wunden Kraft. Alles macht ihm Spaß, aber nichts macht ihn glücklich. Alles macht ihn müde, aber Müdigkeit ist die Wahrheit, in der hier jeder endet. Ein erfülltes Leben, das wäre hier: der Welt entsagen können, ohne das Leben verlassen zu müssen. Das Glück des aufgeschobenen Selbstmordes. Den tragen hier alle im Gesicht, noch dort, wo sich ein scheues Lächeln in die Inszenierung verliert. Wo es sich zum Lachen steigert, grüßt schon der Wahnsinn. Baals Freund Ekart: Franz Pätzold - ein Junge, der noch in jedem Schrecken einen Staunensgrund findet. Andrea Wenzl spielt alle Geliebten Baals, und Katharina Pichler ist die ältere Schwester - zwei in rehzarter Verlorenheit und giftblonder Üppigkeit. Götz Argus liefert söldnerische Holzkopf-Wucht, und Jürgen Stössinger ist ein alter Mann mit einem wunden Blick, den wahrscheinlich Gott sich wünschte, sähe er auf die Erde herab. Bibiana Beglau als Isabelle, die Höllengemahlin: lasziv, lauernd, ein Mephisto, der seinem Schöpfer Goethe wohl gern mitteilen würde: Bin bei Brecht, dem Bösen gehört hier die Zukunft, ich kehre nicht zurück!
Am Castorf-Theater ist nur wichtig, welche Assoziationen du dabei hast. Und ob du dich quälst mit der traurigen Erkenntnis, nicht wirklich das zu leben, was du im Stillen ersehnst: endlich weniger einverstanden zu sein mit deiner Milde, deiner elenden folgenlosen Güte, sie tötet deinen »Hunger nach Erregung« (Rimbaud). Einen Hunger, den du dir nicht gestatten darfst im Joch deiner Bürgerlichkeit. Eine Bürgerlichkeit, die Kolonialismus geblieben ist. Für diesen Gedanken schickt Castorf Baal ins saftige Dickicht, das doch nur eine Wüste des Begehrens ist, darin ein Schlagen und Schwitzen und Schießen und Scheuern und Schreien. Netzstrümpfe, Cowboyhut, Hawaiihemden, Fleisch, Fleisch, Fleisch. Und Geschichte als jene fortwährend blinde Praxis, die aus den Utopien der Köpfe nur immer eine Totenschau der Körper macht. Egal, wo und wann. Die Orte der Enttäuschungen sind austauschbar.
Manchmal stehen die Vertierten der Brechtschen und Castorfschen Pervers-Phantasie an der Rampe, starren in den Nebel im Zuschauerraum und scheinen zu sagen: Auch ihr da unten seid eine Totenschau der Körper. Demokraten allesamt! Die ihr mit eurer Kapitalismuskritik nichts zu verlieren habt außer ein paar Lichterketten - und wie sorglich ihr darauf achtet, auch wirklich nichts zu verlieren. Je linker, desto geschickter und selbstverständlicher nutzt ihr die Meinungsfreiheit - um fleißig deren Ohnmacht zu bespucken. Und seid selber Ohnmacht in Person. Jedem ist ein Mainstriemen über den Charakter gezogen, der entstellt. Subversiv wäre nur, was verboten wird; Gesicht zeigt nur, wer es vermummt. Baal wendet sich ab, er wendet sich in den Ekel, den einzig verlässlichen Vorboten der Erkenntnis, und der Ekel heutzutage muss groß sein, »wir würgen an mehreren Welten« (Volker Braun).
Aleksandar Denic hat auch einen Helikopter auf die Bühne gewuchtet. Der Rotor ragt. Drinnen wird - gevögelt. Andrea Wenzl ist jetzt die Mutter Baals, sie gebiert im deutschen Wald den Sohn, Baal stürzt als blinder, blutiger Klumpen durch Filmbilder - als werde er die Demütigung des Geborenseins nie überwinden. Immer wieder, leise, dringt ein Satz aus Coppolas »Apokalypse Now« durch den Lärm: »In dir wohnen zwei Seelen: eine, die tötet, und eine, die liebt«. Es ist, als schauten diese Seelen sich an, wie es Brecht in »Baal« beschreibt: »Das Funkeln in den Augen zweier Insekten, die sich fressen wollen.« Liebe? Castorf lässt Hong Mei Opernarien schmettern, »Madame Butterfly«, die Geisha sehnt sich nach ihrem GI - Kolonialromantik, dagegen setzt Bibiana Beglau Sartre: »Armer Kolonialherr: Er müsste jene, die er ausplündert, töten. Aber das ist nicht möglich, denn er muss sie ja auch noch ausbeuten.« Die Vergangenheit grüßt ins Morgen.
Den Stimmen dieses Seelen-Infernos ist nichts gültig außer egomaner Selbstbehauptung. Worte: Termiten des Lügnerischen, die nichts Lebendiges übrig lassen auf ihren Wegen. Drastische Kriegerprotokolle, sumpfige Lyrik. Wenn’s Innen überläuft, entgleisen Münder, schwellen Adern an, lodert’s rot auf Stirnen, drohen Köpfe zu platzen. Geilheit sprengt Fesseln. Gier will Raum, Geld möglichst die Welt. Wer aus dem Rahmen der gesetzlichen Gebote fällt, möchte nicht stürzen, er will fliegen, denn: Wer ein Verbrecher und Schänder ist, der ist meistens im Aufwind. Hier geht das wunderbar: fliegen. Baal wird in Videobilder hineinprojiziert, er fliegt über Paris, es fällt der Satz: »Frankreich ist der Name eines Landes, hoffentlich wird es nicht bald der Name einer Neurose.« Charles Aznavour trällert elegisch.
Man hat in dieser Todeszelle Krieg nichts, nur den Traum vom schönen Leben. Schön ist das Leben dann, wenn man etwas erreicht hat, und erreicht hat man etwas, wenn man so schlimm ist wie die anderen. Noch besser: schlimmer als alle. Jimi Hendrix zerrt an Tönen wie ein Ersaufender an Rettungsseilen. Castorf lässt per Video auf faszinierende Weise eine Szene aus dem Director’s Cut von »Apokalypse Now« ablaufen: Millard (Martin Sheen) und seine Soldaten treffen im Dschungel auf die Enklave einer französischen Plantagenbesitzerfamilie. Im Schlund des Krieges eine irrwitzige, unwirkliche private Behauptungskraft: Der Kolonialismus spielt den Ehrenmann, der seine Kultur gegen Wilde verteidigt. Die Schauspieler sprechen die Texte des Films - der hinter ihnen wie eine Wiederholungsschleife abläuft. Baal und Co. surfen wieder auf Videobildprojektionen, der berühmte »Apokalypse Now«-Satz vom geliebten Napalm-Geruch am Morgen wird fallen, und zum Satz das Bild: Von Bombardierungen gejagte vietnamesische Kinder, nackt, gezeichnet, rennen über die Straße. Das Herz der Finsternis. Kalt in der Feuerhitze. Nie schlägt es, es schlägt nur immer zu.
Ende. Erlösung. Du willst nur noch ins Bett. Liegst doch schon drin: in Castorfs Streckbett - die Zeit gezerrt auf fast fünf Stunden. Folter. Kraft gibt, was Kraft kostet.
Nächste Vorstellungen: 24. Januar, 6. Februar
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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