Unter den blühenden Obstbäumen
In seinem Buch »Erben der Erinnerung« erzählt Philip Meinhold von mehr als nur einem Familienausflug nach Auschwitz
Der Arten, der in den deutschen Konzentrationslagern Ermordeten zu gedenken, sind verschiedene. Die Art, wie Gauck & Co. es tun, ist hinlänglich bekannt: Man paradiert routiniert über das Gelände der Gedenkstätte Auschwitz, wiederholt gelegentlich - je nach dem, wann es einem ratsam oder erforderlich scheint - die Worte »Deutschland«, »Erinnerung«, »Verantwortung«, »Freiheit« und »Zukunft«, und solange man beim Blick in die Kameras wahlweise falsch lächelt oder eine sorgsam einstudierte Betroffenheitsmiene aufsetzt, macht man die deutsche Exportwirtschaft glücklich.
Eine andere Art des Gedenkens wäre das stille, aufrichtige, ein sich aus innigem Interesse und nicht ohne Empathie für die Opfer des Nationalsozialismus seinem Gegenstand zuwendendes Gedenken. Wer waren diese Menschen? Wie haben sie gelebt? Welche Erlebnisse und Erfahrungen von ihnen sind überliefert?
Diese Art hat der 1971 in Westberlin geborene Schriftsteller und Journalist Philip Meinhold gewählt. In seinem soeben erschienenen Buch »Erben der Erinnerung« erzählt er von seinen Urgroßeltern, Großeltern, seinen Eltern, von sich, seinen Geschwistern und deren Kindern, fünf Generationen. Den Anlass dafür bietet eine gemeinsame Reise zur Gedenkstätte Auschwitz. Die Reise geht auf einen Wunsch von Meinholds über 70-jähriger Mutter zurück.
Meinholds Großvater mütterlicherseits, Herbert, und dessen zwei Geschwister Günther und Trude galten den Nazi-Rassegesetzen zufolge als »Halbjuden«. Während »Onkel Günther«, dessen Ehefrau Margot und »Tante Trude« zuerst nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert wurden, blieb dem jüdischen »Mischling« Herbert das KZ erspart, weil er 1935 Herta, eine »Arierin«, heiratete. Später, während der Bombennächte, durfte er nicht mit seiner Ehefrau in den Luftschutzkeller. »Bis zum Schluss hätten die Großeltern gezittert, erzählt meine Mutter, ob der Pfarrer sie noch trauen würde - aber er hat es getan.«
Meinhold arbeitet sich in seinem Buch - das der Suhrkamp-Verlag wohl eine »Spurensuche« nennen würde - durch die Familiengeschichte, durch Archive, Filme, Bücher, befragt noch lebende Familienmitglieder nach ihren Erinnerungen und erzählt anhand von mündlichen Überlieferungen, Fotos und anderen Hinterlassenschaften genau und unsentimental aus den Leben der Deportierten: von dem Zeitpunkt an, zu dem ihnen in den 30er Jahren »ein Haufen Kot in den Briefkasten gekippt« wurde, bis zu ihrer Befreiung. Aber der Autor berichtet auch aus dem väterlichen Familienzweig bzw. dem Leben jener, die in der Nazizeit unbehelligt gelebt haben. Tante Dita etwa, der zu Weihnachten auch schon mal ein BDM-Lied einfiel, oder dem Vater, der in der Hitlerjugend war und sich als jugendlicher Knirps zum Volkssturm meldete. »Eigentlich kann es in Deutschland ja niemanden geben, der damit nichts zu tun hat; der nicht Nachfahre von Opfern, Tätern, Drückebergern, Mitläufern ist.« Dennoch, so stellt Meinhold fest, hält es einer aktuellen Untersuchung des Emnid-Instituts zufolge nur ein Prozent der Deutschen für möglich, dass Familienmitglieder in der NS-Zeit »an Verbrechen beteiligt gewesen« seien. Stattdessen wird der populäre Mythos, ausnahmslos alle seien Opfer der »Umstände« gewesen, von Generation zu Generation weitergegeben.
Im letzten Drittel seines Buches widmet Meinhold sich den Erlebnissen, die der Familie während der eingangs angeführten geplanten Reise zur Gedenkstätte Auschwitz widerfahren, notiert die Beobachtungen und Kommentare der Familienmitglieder.
Als er mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern dort ankommt und das ehemalige Lagergelände besichtigt, stößt der Autor neben den erwarteten Lagerstraßen, Blocks, Zäunen, Folterzellen und Hinrichtungsstätten im Lager »Auschwitz I«, dem sogenannten Stammlager, noch auf etwas anderes: auf Pärchen, die sich lächelnd vor dem Schriftzug »Arbeit macht frei« fotografieren, Imbissbuden und Touristenströme aus aller Welt. Aus den baulichen Relikten eines einstigen Nazi-Vernichtungslagers, in dem - rechnet man das Lager Auschwitz-Birkenau hinzu - mehr als eine Million Menschen ermordet wurden, hat man eine Touristenattraktion gemacht. »Man kann sich gar nicht angemessen verhalten«, notiert Meinhold, der sich beim Aufschreiben seiner Beobachtungen und Gedanken häufig im Zwiespalt mit sich selbst wiederfindet, dem er auch Ausdruck verleiht. »Den Ort Auschwitz nicht zu erhalten, wäre unangemessen; eine Sehenswürdigkeit daraus zu machen, ist es ebenso.«
Meinhold, der sich des Umgangs mit Sprache sehr bewusst ist, zitiert NS-Technokratenjargon (»Bezüge sind mit Ablauf des Januar 1944 einzustellen, da umgesiedelt. Vermögen dem Staat verfallen«) ebenso wie den verunsicherten, unterwürfigen Ton im »Wiedergutmachungsantrag«, den Überlebende groteskerweise an Ämter zu richten hatten und in dem sie den Sachwert persönlicher Gegenstände zu »beziffern« hatten, derer sie von den Nazis beraubt worden waren (»Im Konzentrationslager sind mir neben meiner Uhr auch 2 Ringe und eine Nadel genommen worden, die mir meine Schwester vor Jahren aus New York geschickt hat«).
Meinhold ist zugutezuhalten, dass er beim Erzählen weder in einen bürokratisch-spröden, unbeholfenen Historikersprech verfällt noch dazu neigt, sich des Tonfalls des eitlen, ambitionierten Romanciers zu bedienen. »Kein Pathos! Nicht banal werden!«, so ermahnt sich Meinhold selbst einmal an einer Stelle. Tatsächlich erzählt er in bedächtigem, ruhigem, nachdenklichem Ton.
Sein Buch ist persönlich, im besten Sinn nüchtern und zugleich formbewusst. Und es ist am Ende weit mehr als eine vordergründige Erkundung und Recherche der eigenen Familiengeschichte, mehr als der Versuch einer Rekonstruktion der Lebenswege und Schicksale der nach Auschwitz deportierten Vorfahren. Es ist auch eine Reflexion über die Gründe für das Schweigen und das Sprechen von Opfern und Tätern und eine Erörterung über die Schwierigkeiten eines angemessenen Gedenkens in der Gegenwart: Wie gedenkt man der Getöteten und ihres Leidens zu Lebzeiten, wenn das Thema Holocaust die Wahrnehmung abgestumpft und eine Gewöhnung ausgelöst hat? »Wie ein Verständnis für die Verfolgten entwickeln, wenn nicht von den eigenen Erfahrungen her?«, notiert Meinhold, um sogleich sarkastisch festzustellen: »Der Hunger, den ich kenne, dauert einen halben Tag, Kälte kenne ich vom Skifahren und Erschöpfung vom Joggen.«
Meinhold, dem die Schwierigkeiten des Schreibens über den Holocaust stets bewusst sind, zitiert wiederholt die autobiographische Literatur von Holocaust-Überlebenden: Ruth Klügers »Weiter leben«, Primo Levis »Ist das ein Mensch?«, Imre Kertesz’ »Roman eines Schicksallosen«, Tadeusz Borowskis »Bei uns in Auschwitz«. Literatur, die dem Autor dazu verhilft, den möglichen Erfahrungen seiner überlebenden Vorfahren so nahe wie möglich zu kommen.
Primo Levi etwa berichtet einmal davon, wie er in Auschwitz vor einem deutschen Arzt steht, und beschreibt dessen Blick: »Wie durch die Glaswand eines Aquariums« sei dieser »zwischen zwei Lebewesen getauscht« worden. Rudolf Höß, dreieinhalb Jahre Lagerkommandant von Auschwitz, schrieb nach dem Krieg folgende Zeilen: »Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod. Dieses Bild vom Werden und Vergehen steht mir auch jetzt noch genau vor den Augen.«
Philip Meinhold: Erben der Erinnerung. Ein Familienausflug nach Auschwitz. Verbrecher-Verlag, 192 S., 14 €. Buchpremiere mit Lesung und Gespräch am 27. Januar, 20.30 Uhr, Fahimi-Bar, Skalitzer Str.133, Berlin. Eintritt: 4 €.
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