Die eigenen Losungen ernst nehmen
Einen Politikwechsel kann man nicht SYRIZA allein aufbürden, sagt Lutz Brangsch - und sieht die Linken gefordert
Nüchtern betrachtet ist es unverständlich, warum Merkel und wesentliche Teile der bundesdeutschen Eliten einen solchen Lärm um Griechenland machen - sie wissen natürlich, dass die Schulden unbezahlbar sind und dass die Fortsetzung des Drucks auf soziale Standards letztlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die politische Stabilität des Landes langfristig in Frage stellen wird. Zudem dürfte Griechenland - betrachtet man einen längeren Zeitraum und lässt man die Zinsverpflichtungen außer Betracht - das geliehene Geld längst weitgehend zurückgezahlt haben. Ein Schuldenschnitt würde in den Bilanzen nur marginale Spuren hinterlassen.
Der Lärm dreht sich um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass ein Erfolg der griechischen Regierung gegen die von der EU verfolgte Konsolidierungsstrategie die Machbarkeit von Alternativen zum innenpolitischen Kurs der gegenwärtigen bundesdeutschen Regierung bestätigen würde. Sehen wir uns unter diesem Gesichtspunkt das Regierungsprogramm und die ersten Verlautbarungen der griechischen Regierung an.
Die Beendigung von (ohnehin ökonomisch wenig erfolgversprechenden) Privatisierungsvorhaben, die Anhebung von Mindestlöhnen und Stabilisierung der Renten sowie die Legalisierung von Flüchtlingen treffen genau die Konfliktfelder, die die deutsche Regierung möglichst aus den Debatten heraushalten will. Auch wenn Rekommunalisierungen in deutschen Kommunen in vielen Fällen aus haushaltspolitischen Erwägungen erfolgten, so zeigen doch die zum Beispiel über Bürgerbegehren in Gang gesetzten Rekommunalisierungen und die recht große Zahl praktisch gescheiterter und mit großen Belastungen für kommunale Haushalte verbundener ÖPP-Projekte, dass die gegenüber Griechenland angeschlagenen Töne eher »Pfeifen im dunklen Wald« sind als Ausfluss wirtschaftspolitischer Weisheit. Abgesehen von der Verlogenheit der rhetorischen Wellen geht es hier um die Akzeptanz einer Strategie, die eben nichts anderes als erfolgreiche Umverteilung von öffentlich zu privat ist.
Der Mindestlohn, dessen Höhe ohnehin umstritten ist, wird mehr und mehr durchlöchert und gegebenenfalls auch von Unternehmen unterlaufen. Die gesetzliche Rente schrumpft für viele Menschen auf das Niveau einer Mindestsicherung. Die gepriesene Ergänzung der Alterssicherung durch private Versicherungen erweist sich mehr und mehr als Farce, auch weit in die so genannte Mittelschicht hinein.
Und schließlich das Thema Flucht und Migration - die Bandbreite der Reaktionen aus den Regierungsparteien reicht von der Betonung der Bedeutung »nützlicher« EinwanderInnen und Flüchtlinge bis hin zur Anbiederung bei Pegida und AfD - wobei sich beide Pole nicht ausschließen. Jedenfalls wird kein Bestreben sichtbar, sich der Verantwortung, die auch die Bundesrepublik und die bundesrepublikanische Wirtschaft für die Fluchtbewegungen in der Welt trägt, in humaner Art zu stellen. Mithin stellt sich die griechische Regierung Aufgaben, die die deutsche mit einem viel gewaltigeren ökonomischen Potenzial im Rücken unfähig und unwillig ist zu lösen.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund Solidarität? Der für die Eliten Deutschlands gefährlichste Effekt wäre es, wenn nach den Erklärungen der Unterstützung des Kurses der griechischen Regierung und des Protestes gegen das Verhalten der Regierungs- und Medienfunktionäre jetzt die gleichen Projekte wie in Griechenland durch die linken, sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen konsequent auf die Tagesordnung gestellt werden - und das in allen EU-Mitgliedsstaaten.
Das Erzwingen eines Politikwechsels allein SYRIZA und eventuell PODEMOS aufzuladen, wird beide Projekte zum Scheitern bringen. Soll die Losung des Politikwechsels, in der Wahlnacht und am Tag danach vielfältig als handliches Plakat in Kameras gehalten und über Facebook verbreitet, ernst gemeint sein, sind Aktionen auch hier in Deutschland nötig. Rekommunalisierungsprojekte, Bürgerhaushalte, kommunale Initiativen zur Bewahrung des Öffentlichen oder zum Schutz von MigrantInnen erhalten vor diesem Hintergrund einen völlig neuen Stellenwert.
Die hier deutlich werdenden Möglichkeiten der Veränderung legitimieren die Politik in Griechenland gegen die Behauptungen der EU, der Regierungen der Mitgliedsstaaten und eines Großteils der Medien. Sie sind ein Schlüssel, um die Massenhaftigkeit des Protestes, den wir in der Wahl in Griechenland erlebt haben, auch in Deutschland zu erreichen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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