Ein Schokoladenrezept als Segen und Fluch
Nino Haratischwili: Ein Familienroman, wie ein Brief geschrieben
Eigentlich sei jeder Roman ein Brief, heißt es bei Jean Paul. Nino Haratischwilis Buch »Das achte Leben (Für Brilka)« trägt die Empfängerin eines solchen Briefes bereits im Titel. Brilka ist die Nichte von Haratischwilis Erzählerin Niza. An sie ist die tragische, episch weit ausholende Familiengeschichte der georgischen Familie Jaschi gerichtet, die mit der Geburt von Nizas Urgroßmutter Stasia 1900 beginnt.
Ihr Vater, der Ururgroßvater von Niza, hatte es in einer georgischen Provinzstadt mit einer kleinen Schokoladenmanufaktur zu Wohlstand gebracht. Ihm war es gelungen, eine unwiderstehliche Schokoladenmischung zu entwickeln. Unter dem Mantel der Verschwiegenheit gab er das Rezept kurz vor seinem Tod an seine Tochter weiter. Er warnte sie davor, die Schokolade rein zu verwenden. Stasia glaubte, dass die Gefahr, die von der Schokolade ausging, »darin bestand, dass kein Mensch bisher, der in die Versuchung gekommen war, sie zu kosten, es bei nur einem Mal zu belassen imstande war«. Dass zumindest sagt sie, als sie das Rezept in hohem Alter ihrer Urenkelin Niza verrät.
Hat man die Geschichte der Familie Jaschi gelesen, besteht kein Zweifel, dass die Schokolade beides war: Segen und Fluch. Segen, weil die Jaschis damit wohlhabend wurden und unter den Schönen und Mächtigen heiraten konnten. Und Fluch, weil - um nur ein Beispiel zu nennen - Nizas Großtante Christine wegen ihrer Schönheit und ihrer Schicht entsprechend einen Mann heiratete, der im Geheimdienstapparat der Sowjetunion Karriere machte und die Aufmerksamkeit Lawrenti Berijas auf sich zog, der rechten Hand Stalins. Sie kann nichts dagegen tun, dass Berija sie vergewaltigt und zu seiner Geliebten macht. Hätte sie Widerstand geleistet, hätte er ihre Familie umgebracht. Als ihr Mann es erfährt, verunstaltet er Christines Gesicht mit Säure und erschießt sich danach. Er befreit sie von Berija, der sie nicht mehr sehen will, macht sie jedoch zur Witwe, nimmt ihr den geliebten Mann.
Es ist diese tragische Ausweglosigkeit, die die Familie Jaschi im blutigen georgisch-sowjetischen zwanzigsten Jahrhundert prägt. Ein Fluch, symbolisiert durch die Unwiderstehlichkeit der Schokolade, gegen den Niza ihren Romanbrief für Brilka schreibt. Nur schade, das der Roman erst ganz hinten, im 7. Buch wirklich gut wird, dort wo Niza ihre eigene Geschichte erzählt. Im historischen Teil, in dem fast alle Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts vorkommen, bleiben die Männerfiguren blass und man erfährt wenig darüber, was sie zu den Taten brachte, die vielen Menschen das Leben kosteten, und wie sie mit der Erinnerung daran umgegangen sind. Ist es Zufall, dass auch Figuren, die nicht unmittelbar zur Familie Jaschi gehören, kaum entwickelt werden? Selbst Nizas Großmutter, eine angeheiratete Frau, wird nur kurz geschildert.
Vielleicht ist es doch nicht so einfach: dass jeder Roman ein Brief ist. Vielleicht gibt es doch einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Erzähler eines Romans, der alle seine Figuren lieben muss, aber immer aus einer gewissen Distanz heraus, und dem Schreiber eines Briefes, der sich mit seinem Text an eine konkrete, individuelle Person wendet. Einem Brief mit einer persönlichen Familiengeschichte.
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