Den Kapitalismus zivilisieren?
Jens Berger wollte wissen, wem Deutschland gehört und plädiert für eine gerechte, stabile Gesellschaft
Es gibt verschiedene Wege, sich einem Sachbuch zu nähern. Der nächstliegende ist der über den Titel. »Wem gehört Deutschland?« Das hat was. Sicher auch, weil da - nicht zuletzt boulevardesk und sogar voyeuristisch - andere Fragen mitschwingen. Beispielsweise »Wer eigentlich sind die Reichen und wie reich sind sie wirklich?« oder »Geht die Vermögensschere dem Land tatsächlich stählern an die Gurgel oder besteht sie nur aus Sozialneid?« Wenn dann der Inhalt des Buches dem Titelversprechen auch noch nahe kommt, dürfte es bald in einer Bestsellerliste stehen. Autor Jens Berger, freier Print- und Internetjournalist, schaffte beides.
Er war, um das gleich vorweg zu nehmen, mit dem Thema allerdings weder der erste, noch dürfte er der letzte bleiben. Denn es scheint dabei geradezu um eine Sachbuch-Kardinalfrage zu gehen. Eine Antwort gesucht hatte schon Rüdiger Liedtke mit »Wem gehört die Republik?«. Die Erstausgabe stammt von 1991 (Eichborn), und inzwischen avancierte das Buch, mit fast alljährlichen Nachauflagen, quasi zum Standardwerk. Auch Jürgen Leibiger - um einen der jüngeren Versuche zum Thema zu erwähnen - komplettierte seine »Zukunft Eigentum« (Karl Dietz Verlag, 2011) mit der Unterzeile »Wem gehört die Republik?«
Die Antwort scheint also kompliziert zu sein. Zwei Gründe dafür nennt Jens Berger eingangs: Wirklich belastbare Aussagen über Reichtum und Vermögensverteilung in Deutschland seien kaum zu bekommen, und Vergleiche (vor allem internationale) hinkten wegen der höchst verschiedenen statistischen Ansätze oft auf allen Füßen.
Berger machte sich dennoch ran. An den Anfang setzt er bereits oft Konstatiertes, vielfach auch Kolportiertes. Dass das oberste Prozent der Deutschen (800 000 Menschen) über die Hälfte des gesamten nationalen Nettovermögens verfügt. Dass, wenn die Einkommen langsamer steigen als die Produktivität, eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Und dass - dabei verweist er auf James K. Galbraith - ein Wirtschafts- und Finanzsystem umso stabiler sei, je gleicher die Vermögen verteilt sind (demgemäß wären heute, siehe Gini-Koeffizient, Russland und Nigeria am instabilsten; d. A.).
All das wird sehr detailliert in zehn weiteren Kapiteln dekliniert. Wertungen, politischer wie moralischer Art, enthält sich der Autor weitgehend. Allerdings listet er am Ende seine 16 Reformpunkte »für eine gerechte und stabile Gesellschaft« auf. Darin nun kommen ziemlich alle Schlagworte der politischen Parteien und Bewegungen vor, die in irgendeiner Weise oppositionell links (teilweise auch extrem rechts) zur derzeitigen bundesdeutschen Regierungskoalition stehen: Wiedereinführung der Vermögenssteuer und Steuerpflicht für weltweite Einkünfte, eine wirksame Finanztransaktionssteuer und Verschärfung des Stiftungsrechts, ein Mindestlohn von zehn Euro und bessere Förderung armer Kinder und Jugendlicher usw. usf. Mit welchem gesellschaftspolitischen Ziel all dass erfolgen soll, formuliert er in seinem knappen Fazit. »Wenn genügend Leute glauben, dass die krasse ökonomische Vernunft sie ihrer Lebenschancen beraubt, werden sie sich erheben.« Man könne deshalb selbst für Deutschland nicht ausschließen, dass es zu einer Revolution kommt. Indes: »Noch ist es nicht zu spät: Solange die Chance besteht, diese Fehlentwicklung zurückzudrehen, sollten wir die Chance nutzen. Zivilisiert den Kapitalismus!«
Die vom Autor akribisch zusammengetragenen Fakten der divergierenden Eigentumsentwicklung in Deutschland, ihre einleuchtend dargelegten Ursachen und Bewegungsrichtungen hätten durchaus auch andere Schlüsse nahe gelegt. Beispielsweise die, den Kapitalismus zu stoppen oder zu überwinden. Aber scheinbar einfache Antworten gelten heute eben als gestrig, gescheitert, zumindest verschroben. Schon im Alten Testament ist zu lesen: »Dem Geld gehorcht alles.« (Jesus Sirach, 10.19) Und Rio Reiser ließ in den 1980er Jahren wissen: »Wer das Geld hat, hat die Macht und wer die Macht hat, hat das Recht.« Berger bleibt dem gegenüber leider in verschwommenen Feststellungen stecken. An einer Stelle zitiert er zwar sehr passend aus dem »Alfabet« von Bert Brecht: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.« Um sogleich alt-, präziser: neuklug einzuschränken, dass es so einfach, wie Brecht sich das 1934 vorstellte, heute nicht sei.
Dennoch sei dieses Buch ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Mündige Leser dürften in der Lage sein, Schlüsse selbst zu ziehen. Das umfangreiche, gut strukturierte Zahlen- und Faktenmaterial bietet zudem Wegweiser durch unsere alltägliche Kommunikationswelt der Halbwahrheiten und Manipulationen.
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