Von der Schul- an die Werkbank

Warum in Dessau-Roßlau ein Ehrenamtler, ein Ausbildungsleiter und eine Berufseinstiegsbegleiterin des Öfteren an einem Tisch sitzen. Von Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Ron Wolter und Steffen Lindner erlernen den Beruf des Konstruktionsmechanikers.
Ron Wolter und Steffen Lindner erlernen den Beruf des Konstruktionsmechanikers.

Das graue Wetter schmeichelt der Stadt nicht. Sie hätte es nötig. Es soll hier schöne Ecken geben. Die, in die es uns verschlägt, wirken abweisend und schäbig. Kalte, heruntergekommene Straßenzüge, verlassene Villen, von denen der Putz bröckelt. In »Connys Imbiss« trinkt man schon früh um zehn Bier, das Speisenangebot ist überschaubar: Bockwurst, Bratwurst, Currywurst, Kartoffelsalat kostet 2,50 Euro. Vom großen Parkplatz zum Edeka-Markt streben vorwiegend alte Leute.

Wir sind in Roßlau, das seit 2007 zur kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau gehört. Dem Eindruck, den wir gewonnen haben, muss Wilfried Beuger widersprechen. Beuger treffen wir in der Roßlauer Schiffswerft GmbH & Co. KG, er ist dort Ausbildungsleiter im Ausbildungsverbund, den die Werft mit der Stahlbau Dessau GmbH & Co. KG bildet. Beuger sagt: »Was hier seit der Wende gemacht worden ist, hätte die DDR nicht in 30 Jahren geschafft.« Das mag stimmen.

Dennoch, die Bevölkerung schwindet. Schuld daran tragen nicht nur der Geburtenrückgang seit den 1990er Jahren, sondern auch fehlende Arbeitsplätze. Wer jung genug ist, sucht das Weite. Um das zu verhindern, sitzen der Ausbilder Wilfried Beuger, der Ehrenamtler Jürgen Rockmann und die Berufseinstiegsbegleiterin Steffi Steinbrenner des Öfteren an einem Tisch. So auch heute.

An der Stirnseite des Tisches müsste eigentlich Jürgen Rockmann Platz genommen haben. Aber das hat er nicht. Rockmann, der alles mit ins Rollen gebracht hat, ist keiner, der einen herausgehobenen Platz für sich beansprucht. Täte er es, würde es nicht funktionieren: Partner reden auf Augenhöhe. Rockmann hat ja auch keine Befugnisse - er kann nur werben, anregen, organisieren. Er ist ausgebildeter Lehrer für Polytechnik und unterrichtete Wirtschaft und Ethik an der Roßlauer Sekundarschule an der Biethe, seit wenigen Tagen ist er Rentner. Aber den Bereich Schule des lokalen Arbeitskreises Schule-Wirtschaft Dessau-Roßlau leitet er noch immer. Noch immer leidenschaftlich. Leidenschaftlich heißt bei ihm: beharrlich, fleißig, unermüdlich.

Dieser Arbeitskreis wurde 2004 gegründet. Warum? »In der DDR«, erzählt Jürgen Rockmann, »gab es den Unterrichtstag in der Produktion, später das Fach Produktive Arbeit. Beide ergänzten im Rahmen der polytechnischen Ausbildung die Fächer Einführung in die sozialistische Produktion und Technisches Zeichnen. Die Schüler gingen in Betriebe, lernten die Arbeit im Bauwesen, in Industrie oder Landwirtschaft kennen, erwarben praktische Fähigkeiten. In den staatlichen Schulen heute gibt es kaum praktische Komponenten. Und nachdem wir ein paar Jahre in der Bundesrepublik waren, mussten wir feststellen: Unsere Schulabgänger können handwerklich nichts mehr. Wie auch? In etlichen Schulen findet man bestenfalls eine Bohrmaschine.« Keine guten Voraussetzungen, um das Interesse von Schülerinnen und Schülern an Ausbildungsberufen zu wecken. Und keine guten Voraussetzungen, dass sie, wenn sie sich denn entscheiden, einen solchen Beruf zu ergreifen, auch den für sie richtigen wählen. Schlecht nicht nur für die Jugendlichen, schlecht auch für die Ausbildungsbetriebe. Der Arbeitskreis setzte sich das Ziel, Schülerinnen und Schüler schon früh an die lokalen Wirtschaftsunternehmen zu binden, ihnen eine Zukunft in der Region zu bieten und den Mangel an Fachkräften in bestimmten Berufen zu bekämpfen. Viel Arbeit für Rockmann und seine Mitstreiter. Sie haben es gepackt: die Laufbahnberatung in den Schulen verbessert, Kontakte zur Wirtschaft geknüpft, Schülerpraktika und Betriebsbesichtigungen für Lehrer organisiert, mit Projekten und Aktionen die Angebote regionaler Betriebe in den Blickpunkt gerückt …

Ein an der Zusammenarbeit von Anfang an interessierter Partner war die Roßlauer Schiffswerft. Als Volkseigener Betrieb hatte die Werft sehr erfolgreich Schiffe für den Export gebaut. So war am 22. Mai 1957 im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« unter der Überschrift »Run nach Roßlau« zu lesen: »Mit Ferngläsern beobachteten Direktoren und Ingenieure der großen Hamburger Schiffswerften am 4. Mai, wie das mit Flaggen und Girlanden geschmückte Binnenschiff ›Blankenese‹ vor ihren Bürofenstern auf der Elbe abwärts glitt. Es war die Probefahrt der ›Blankenese‹.

Die Herren richteten ihre Okulare zunächst auf das Spruchband, das an der Backbordseite baumelte und auf dem als Herkunftswerft des Schiffes zu lesen war ›VEB Roßlauer Schiffswerft‹. Dieses Emblem eines volkseigenen Betriebes der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik war noch nie auf einem zur Probefahrt zugelassenen Schiffsneubau in Hamburger Gewässern gesichtet worden. Die Späher interessierten sich aber auch für die Gästeschar an Deck der ›Blankenese‹. Sie vermuteten nicht zu Unrecht jene Gruppe bundesdeutscher Reeder an Bord des Fahrzeugs, die sich in jüngster Zeit danach drängte, ihre Schiffe bei den Werften der ›DDR‹ bestellen zu können.«

In dem Text erfuhr der Leser dann noch etwas über russische Schlampigkeit und deutsche Wertarbeit: »Daß westdeutsche Schiffahrtkreise plötzlich derart heftiges Interesse für Räsacks Schiffe aufbringen (Helmut Räsack, damals Generaldirektor des DIA Transportmaschinen - nd), hat außer der kurzen Lieferzeit auch noch andere Gründe: Die Ostwerften sind in den vergangenen Jahren von energischen sowjetischen Kontrollingenieuren, die nicht die geringste Nachlässigkeit durchgehen ließen, auf Qualitätsarbeit gedrillt worden. Bei manchen westdeutschen Werften hat sich hingegen mit der allgemeinen Arbeitsüberlastung und den immer knapper werdenden Baufristen eine gewisse qualitätsmindernde Großzügigkeit unter den Arbeitern eingeschlichen.«

Nachdem die Werft an der Mittelelbe in den Jahren 1990 bis 1993 von der Treuhand verwaltet wurde, gehört sie heute zur Heinrich Rönner Gruppe, die an 21 Betriebs- und Produktionsstätten rund 1200 Mitarbeiter beschäftigt. In Roßlau werden nun keine kompletten Schiffe mehr gebaut, aber weiterhin Stahlsektionen für den Schiff- und Yachtbau, außerdem umfasst die Produktpalette das Fertigen von Kranen, Brücken und deckt auch den Bereich des Stahlwasserbaus ab. Ausbildungsleiter Wilfried Beuger ist nicht böse darüber: »Wir müssen nicht mehr bei Wind und Wetter auf der Helling, sondern können in den Hallen arbeiten.«

Die Liaison mit Rockmanns Arbeitskreis habe sich in den vergangenen Jahren für die Werft ausgezahlt. Manchen Azubi habe sie deshalb gewonnen, weil der hier als Schüler ein Praktikum absolvierte. »Wenn sich jemand bei uns bewirbt, der hier schon mal reingeschnuppert hat, weiß er meist, ob er das wirklich machen will. Und ich weiß von ihm, wie er sich anstellt: Selbst wenn das Zeugnis nicht so toll ist, geben wir ihm vielleicht eine Chance - wenn er den festen Willen hat, den Beruf bei uns zu erlernen, und wenn er Geschick mitbringt. So bleibt die Fluktuation gering.«

Doch nie sei die Zusammenarbeit der Wirtschaft mit den Schulen dringender als heute gewesen: »Noch vor ein paar Jahren«, berichtet Beuger, »haben sich bei uns jedes Jahr 80 bis 100 Jugendliche um eine Ausbildung beworben. Jetzt sind die geburtenschwachen Jahrgänge dran, und es sind nur noch 10 bis 15 pro Jahr, die einen Ausbildungsplatz bei uns suchen. Das betrifft nicht nur die Werft. Kollegen aus anderen Unternehmen kämpfen mit demselben Problem.«

44 Konstruktionsmechaniker und 10 Industriekaufleute bildet der Ausbildungsverbund zur Zeit aus - die Zahlen umfassen alle drei Ausbildungsjahre. Zwei der Azubis, die über die Angebote von Jürgen Rockmanns Arbeitskreis herfanden, sind Ron Wolter und Steffen Linder. Ron, 18, ein großer, stämmiger Kerl, ist im 2. Lehrjahr zum Konstruktionsmechaniker und arbeitet bereits in der Produktion mit. Er hat bei einem Praktikum auf der Werft entdeckt, dass es »mir liegt, etwas mit Metall zu machen«. Morgens fährt er mit dem eigenen Mercedes vor, für den hat er 600 Euro bezahlt, er hat eisern darauf gespart. Beuger findet es gut, »wenn sich jemand anstrengt, um sich einen Traum zu erfüllen«. Steffen, 16, ein eher schmächtiger Junge, der noch etwas unbeholfen wirkt, hat die Ausbildung erst begonnen. Schon im ersten Jahr lernen die Azubis, »acht Stunden lang an einem Arbeitsplatz kontinuierlich zu arbeiten«, aber auch Anreißen, Zerspanen, Sägen, Bohren, Pfalzen, Gewindeschneiden, Hart- und Weichlöten, Brennschneiden, Elektronenschweißen, Metall-Aktivgas-Schweißen und vieles mehr. Unter anderem absolvieren sie einen Stapler- und einen Kranlehrgang. Wer sich dies alles zu eigen macht, der hat überall Chancen. Beuger zeigt auf den kräftigen Ron. »In drei Jahren, Steffen«, sagt er, »siehst du auch so aus.« Steffen nickt.

Es gibt Azubis mit Abitur wie Johannes Rensch, die nach dem 3. Lehrjahr studieren werden. Es gibt andere, die schon als Schüler Hilfe brauchen. Bei denen ist Steffi Steinbrenner gefragt. Steffi Steinbrenner arbeitet beim Bildungswerk der Wirtschaft Sachsen-Anhalt e.V. und begleitet im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit ab der 8. Klasse ausgewählte Mädchen und Jungen. Steinbrenner unterstützt sie, den Schulabschluss zu erlangen, bei der Berufsorientierung, Berufswahl und Ausbildungsplatzsuche und bleibt auch während des ersten halben Jahres der Ausbildung an ihrer Seite. Ein Teil ihrer Schützlinge wächst in Hartz IV-Familien auf. »Manche Eltern liegen noch im Bett, wenn ihre Kinder aufstehen sollen. Diesen Kindern müssen wir eine Chance geben, ein anderes Leben zu führen.«

Steffi Steinbrenner mag ihre Arbeit. Ursprünglich hat sie Ökonomie studiert. Nach der Wende machte sie die Anpassung zur Diplom-Betriebswirtin, aber das Braunkohlenkombinat, in dem sie gearbeitet hat, hat dichtgemacht. Sie wechselte dann in den Bildungsbereich, wurde beim Bildungswerk der Wirtschaft Sachsen-Anhalt e.V. Ausbilderin für kaufmännische Berufe. Über eine Ausschreibung vom Arbeitsamt bekam der Bildungsträger den Zuschlag für die Berufseinstiegsbegleitung. Leider gehe es den Bildungseinrichtungen »nicht so gut«, erzählt sie, und leider habe ihre Einrichtung die nächste Ausschreibung nicht gewonnen. Wie es weitergeht? Sie wird abwarten müssen.

Dessau-Roßlau 2015. Welche Gründe gäbe es, hierzubleiben? Steinbrenner, Rockmann und Beuger tragen ein paar zusammen: die Familie, die schöne Umgebung - Wörlitz, Wittenberg, Bad Belzig.

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