Die Zeit der großen Kämpfe
Im Kino: »Als wir träumten« von Andreas Dresen
Das Kino ist abgebrannt, das Lichtspielhaus - finster. Hier beginnt Andreas Dresens Verfilmung von Clemens Meyers Roman »Als wir träumten«: auf einem in Trümmern liegenden Spielplatz der Illusionen. Bei Meyer heißt das kleine Kino in Leipzig Südost, in dem Danie und Mark früher »Old Shurehand«, später »Fickfilme« geguckt haben, »Palast-Theater«. Nur dass jetzt, als Danie die Ruine durch ein schlecht vernageltes Fenster wieder betritt, das »l« im maroden Schriftzug fehlt.
In der Zeit, als das Kino brannte, ist aus manchem der Jungs ein Mann geworden und aus dem Land ihrer Kindheit, weil der neue Staat noch nicht reingebaut war, eine Art Wild-West-Gelände. Als Danie nun, da diese Zeit sich ihrem Ende neigt, in das Kino einsteigt, tut er das, weil sein alter Schulfreund Mark aus dem Drogenentzug ausgebrochen ist und sich hier verschanzt. Hinter ihnen liegt eine wilde, schöne Zeit, die jetzt ihre Opfer fordert. Danie setzt sich auf einen der verrußten Kinosessel. Er hört Mark im Raum, aber er kann ihn nicht sehen. Er will ihn retten, seinen Freund, und die verstrichene Zeit.
Und dann geschieht auf der Leinwand zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in diesem Film etwas, das nur im Kopf geschehen kann. Aus dem Kinohintergrund, von da, wo der zerstörte Vorführraum sein muss, schießt ein Lichtkegel nach vorn, als wolle er einen Film projizieren. Danies Gesicht ist jetzt deutlich zu sehen: die wehmütigen Kinderaugen im Jungmännergesicht, fest nach vorn gerichtet. Natürlich läuft nicht wirklich ein Film in der Ruine, aber der Film in jenem Kino, in dem wir sitzen, beginnt. Und für Danie (Merlin Rose) beginnt das Kino im Kopf: lauter Rückblicke auf jene Zeit, als er und Mark (Joel Basman), Rico (Julius Nitschkoff), Pitbull (Marcel Heupermann) und Paul (Frederic Haselon) »die Größten« waren - selbst wenn sie mal wieder ordentlich auf die Fresse kriegten oder hinter Gittern landeten. Lauter Erinnerung an all die Aufbrüche, Einbrüche, Durchbrüche - und an den Zusammenhalt, mit dem sie einander noch aus jeder Scheiße geritten haben: »Wir sind doch Brüder!« Aber Mark ist nicht zu retten.
Wir werden später Szenen sehen, die den Rahmen der Rückblenden sprengen: die Jungs auf Marks Beerdigung. Das Totenbesäufnis. Und dabei Danies Vorwürfe an Pitbull - er, der dreckige Dealer, habe Mark den Stoff beschafft, der ihn ins Grab brachte. Pitbull kapituliert und geht. Ein Zerwürfnis. Das Ende der Freundschaft? Rico, der Boxer, muss in den Knast. Den letzten Abend davor verbringt er mit Danie im Stripclub. Und da begegnen wir auch Sternchen (Ruby O. Fee) ein letztes Mal, jenem verlorenen Mädchen, das wie ein Glühwürmchen durch die Leipziger Nächte vagabundiert war, mal auf diesem, mal auf jenem Schoße sich niederließ, für Danie, der Sternchen anhimmelte, aber immer unerreichbar blieb. Im Stripclub taucht sie nun noch einmal auf - als Tänzerin. Tod, Verrat, Knast, Sexarbeit. Und Danie? Blickt zum Schluss durch das Heckfenster eines Taxis. Von vorne fragt die Stimme: »Wohin soll’s denn gehen?« Abspann.
Als Clemens Meyer 2006 seinen Debütroman »Als wir träumten« veröffentlichte, war das ein literarischer Faustschlag. Das Buch traf viele seiner Leser mit Wucht an der Schläfe. So brutal und präzise hatte zuvor noch keiner erzählt, was einem Teil der von Jana Hensel zu »Zonenkindern« subsumierten Generation in den Jahren nach 1989 auf den Straßen einer ostdeutschen Großstadt widerfahren sein konnte. Meyer erweckte aber nicht den Anschein, er sei ein Soziologe, der das Bild einer Generation zeichnen wollte. Er berichtete herznah und hautzerreißend von einer Handvoll Jungs, die gemeinsam durch die DDR-Schule gegangen waren und die nun ihren Weg ins echte Leben feiern, als gäbe es kein Morgen - frei von jeder Autorität, die ihnen noch weiszumachen wagte, wo es denn langginge.
Aus dem Buch, das aus der spezifischen Perspektive derjenigen erzählt ist, in deren Leben der Beginn der Pubertät mit dem Ende der DDR zusammenfiel, ist nun also ein Vier-Generationen-Film geworden: Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ist 83, Regisseur Dresen 50, Meyer 37 und die Hauptdarsteller wurden erst in jener Zeit geboren, in der der Film spielt. Gunnar Decker, der »Als wir träumten« in dieser Zeitung rezensierte, als der Film im Berlinale-Wettbewerb lief (nd vom 11.2.15), hielt das für »eine wenig glückliche Mischung«. Er war enttäuscht, weil er ausgerechnet in diesem Film »den Ausdruck einer prägenden Lebenserfahrung« vermisste und stattdessen einen »Bilderbogen ohne Seele« sah.
Ich sah denselben Film, aber das Gegenteil: Prägender als die Erfahrungen, die die Protagonisten des Films machen, können Einschnitte in ein Leben kaum sein. Und ähnliche Erfahrungen, wie sie hier durchkämpft, durchjubelt und durchlitten werden, dürften viele gemacht haben, die zur selben Zeit in einer ostdeutschen Großstadt erwachsen wurden - wenngleich nicht in jedem Falle so blutig, skrupellos und kriminell. Dass ausgerechnet Andreas Dresen, die personifizierte Seele unter den deutschen Filmemachern, einen seelenlosen Film gedreht hätte, auch das empfinde ich ganz anders. Der Film ist nicht nur wegen der Jagd- und Kampfszenen, und nicht nur, weil ein wesentlicher Teil davon in einem illegal gegründeten Technoclub spielt, härter (auch im Ton, in der Musik, im Schnitt und im Spiel des Lichts) als andere Dresen-Filme, aber in dieser Härte bleibt er immer so nah an seinen Figuren, dass man ihre Körperwärme zu spüren meint. Und es gibt auch wunderbar leise, melancholische Momente.
Einer davon fällt unter jene Rückblenden, die Danie und seine Freunde als Thälmann-Pioniere zeigen. Danie wird vor ein kleines Tribunal im Direktorat zitiert, weil sein bester Freund Rico in seinem Beisein sein rotes Halstuch verbrannt hat. Man fordert ihn auf, sich von Rico zu distanzieren. Und dann steht da der kleine Danie (Chiron Elias Krase) mit seinem treuen Kindergesicht und stimmt diesem Distanzieren in aller Unschuld zu: »Und wie mache ich das?« Da möchte man heulen. Und dann einmal, als er ein paar Jahre älter ist, rennt er vor den Glatzen um sein Leben und findet Zuflucht im Flur eines Altbaus. Ganz oben öffnet sich eine Tür, eine nicht mehr ganz junge Frau (Anja Schneider) lugt heraus und lässt ihn herein. Erst sagt die Einsame noch, ihr Mann käme gleich, aber dann öffnet sie ihre Bluse und bietet sich, lechzend nach Berührung, dem Jungen an. Der greift erst zögerlich zu, lässt dann wieder ab, das geht nicht. Die Glatzen sind weg, er verschwindet. Und zurück bleibt ein Blick, so traurig, dass man ihn lang nicht vergisst.
»Als wir träumten« ist vielleicht kein »Weltklassekino«, als das er von Andreas Platthaus in der »FAZ« bezeichnet wurde. Und wer eine lupenreine Übersetzung des Meyer-Romans auf die Leinwand erwartet hatte, wird auch enttäuscht, denn ein Film folgt anderen Gesetzen als ein Buch. Aber ein echter Dresen ist es doch geworden.
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