Ideologiefrei
Rot-Rot-Grün will in Thüringen andere Maßstäbe bei der DDR-Aufarbeitung anlegen / Arbeitsgruppe eingesetzt
Geschichtspolitik steht nicht oft ganz weit oben auf der Liste von Landesregierungen – in Thüringen ist das anders. Einer der Gründe dafür hat mit dem Selbstanspruch der dortigen Linkspartei zu tun, einen Umgang mit der DDR-Vergangenheit zu finden, der weder in den Rastern eines Rückblicks verharrt, dem die Kritik an damaliger Überwachung, Demokratiemangel und Unfreiheit vor allem zur Legitimierung von heutigen Verhältnissen dienen soll – einen Umgang, der aber auch nicht in die Falle der Beschönigung einer Vergangenheit tappt, die allen Linken zur Hypothek geworden ist.
Die Erklärung zur Aufarbeitung, die während der Koalitionsgespräche zwischen Linkspartei, SPD und Grünen vor allem wegen des Begriffes »Unrechtsstaat« für Schlagzeilen sorgte, hat viele Diskussionen ausgelöst. Inzwischen sind knapp 100 Tage Rot-Rot-Grün vergangen – und es zeichnen sich langsam Konturen der Erinnerungspolitik ab, die mit der Erklärung ja erst einmal nur angekündigt worden war.
Anfang März hat das Erfurter Kabinett eine interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt, die »neue Maßstäbe« in Sachen DDR-Geschichte setzen soll. »Wir wollen einen umfassenden gesellschaftlichen Prozess einer konsequent ideologiefreien Aufarbeitung anstoßen und fördern«, hat die Staatssekretärin Babette Winter das Unterfangen umrissen – die SPD-Politikerin aus dem Ruhrgebiet, seit 2012 in der Thüringer Landespolitik, leitet das Gremium. Fünf weitere Staatssekretäre gehören der Arbeitsgruppe an, man will sich vierteljährlich treffen und jährlich über den Fortgang an das Kabinett berichten.
Die genannten Schwerpunkte überraschen nicht, es geht unter anderem um Fragen der Rehabilitierung, die Gedenkstättenarbeit und die Bedingungen für die wissenschaftliche Aufarbeitung. Woran Rot-Rot-Grün sich vor allem messen lassen muss, ist jedoch, ob es gelingt, eine andere Erinnerungskultur zu ermöglichen: ein politisch gefördertes und im Alltag präsentes Geschichtsverständnis, das persönlichen Perspektiven Raum gibt und die Widersprüchlichkeit des Lebens in der DDR zur Kenntnis nimmt, in der Zwang und Freiraum mitunter ganz nahe beieinander liegen konnten.
Dass man sich vor allem von der »Thematisierung des Alltags in der SED-Diktatur« einen Impuls für »den angestrebten gesamtgesellschaftlichen Diskurs« verspricht, stellt die rot-rot-grüne Vergangenheitspolitik in eine Tradition von Geschichtspolitik, die sich bisher auf Bundesebene nicht durchsetzen konnte: weg von der »Delegitimierung eines untergegangenen politischen Systems«, wie es der Historiker Christoph Kleßmann einmal formuliert hat, statt dessen mehr »andere Akzente und deutlichere Differenzierungen«.
Als Mitte der 2000er Jahre über Veränderungen in der Aufarbeitungslandschaft diskutiert wurde, pochten prominente Stimmen auch darauf, den Blick auf die DDR von Verengungen auf die Staatssicherheit zu befreien. Erinnerung solle »ohne Entwertung des Lebens in der DDR« möglich sein, heißt es nun über den Ansatz zu einer rot-rot-grünen Geschichtspolitik in Erfurt. Die »Anteile verschiedenster Teile der Gesellschaft am Alltag« der DDR sollen Berücksichtigung finden.
Bleibt die Frage, ob der Rückblick auf eine bestimmte Vergangenheit überhaupt »ideologiefrei« sein kann. Auch eine von den bisherigen Fesseln befreite DDR-Aufarbeitung kann ihr heutiges, ihr soziales und politisches Fundament nicht leugnen – und sie wird Anschauungen über das Vergangene produzieren, die selbst wieder politisch wirksam werden. Das muss kein Nachteil sein: Es kommt auf das Ergebnis an.
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