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Eine Hommage an den Liebling der Partei
Wladislaw Hedeler hat eine opulente Biografie über Nikolai Bucharin, Stalins tragischen Opponenten, verfasst
Nein, einem kritischen Geist wäre es in der DDR nicht eingefallen, Aufregendes in einem Buch Erich Honeckers zu suchen. Völlig Unerwartetes geschah dennoch: In seiner 1980 erschienenen Autobiografie nannte dieser plötzlich die Namen der großen russischen Revolutionäre, die Stalin als angebliche Konterrevolutionäre und Nazikollaborateure hatte umbringen lassen und die, wenn überhaupt, nur mit negativer Konnotation versehen genannt wurden. Wie selbstverständlich sprach Honecker jedoch nun davon, dass er erste Kenntnisse über das Programm der Bolschewiki aus dem seinerzeit populären »ABC des Kommunismus« von Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobrashenski gewonnen hätte, das er 1930 bei seinem Besuch der Internationalen Lenin-Schule in Moskau genauer studieren konnte.
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* Wladislaw Hedeler: Nikolai Bucharin. Stalins tragischer Opponent.
Matthes & Seitz. 636 S., geb., 39,90 €.
Indes, Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft in der DDR hatte das nicht, Bucharin blieb weiter Unperson, verfemt und tabuisiert. Das bekam auch der Verfasser der nun vorliegenden, umfassendsten und gründlichst recherchierten Bucharin-Biografie zu spüren. Mit seiner Absicht, über Bucharin zu forschen, stieß Wladislaw Hedeler selbst dann noch auf Ablehnung und Misstrauen, als dessen Rehabilitierung in der Sowjetunion schon in vollem Gange war. Was sich dann abspielte, kann nur als Wissenschaftskrimi bezeichnet werden. Hedeler musste seine Dissertation in Moskau schreiben. Aber auch dort mahlten im Wissenschaftsbetrieb die Mühlen der Perestroika noch langsam.
Sachlich und trotzdem Partei ergreifend, zeugt Hedelers Monografie von intimer Kenntnis des Lebens seines Protagonisten, das ein äußerst produktives, aber auch kurzes war. Bucharin war gerade mal 50 Jahre alt, als Stalin ihn umbringen ließ, ihn, der trotz gelegentlicher Differenzen zu den engsten Kampfgefährten Lenins gehört hatte. »Liebling der Partei« nannte Lenin Bucharin. Es ist ein kaum verständliches Faszinosum, dass es Stalin gelungen ist, nicht nur ihn, sondern die gesamte alte Garde der Bolschewiki auszuschalten, ohne in der internationalen kommunistischen Bewegung auf spürbaren Widerspruch zu stoßen.
Natürlich gab es Sympathiebekundungen für die Opfer, natürlich gab es Abspaltungen, und es war klug von Hedeler, die Bucharin- Rezeption in der KPD(O) darzustellen. Aber im Grunde wurde jede Repression in Moskau von den Kommunisten in aller Welt mit Zustimmung bedacht. Stalin, der selbst ernannte »Lenin unserer Tage«, machte den Revolutionsführer Lenin zu einer tragischen Figur, die sich mit potenziellen Konterrevolutionären umgeben habe, die angeblich nur so bald wie möglich die alte Ordnung wieder restaurieren wollten.
Bucharin war einige Jahre sogar Vorsitzender der Kommunistischen Internationale. Und es sollte heute nicht vergessen werden, dass die russische Revolution kühn Neuland betrat und es in den Reihen der Bolschewiki stets kritische Geister gegeben hat. Das auf dem 10. Parteitag der KP Russlands von Lenin durchgesetzte Fraktionsverbot wirkte sich indes tragisch aus, gab Stalin die Handhabe, jegliche Opposition zu kriminalisieren.
Eigentlich bedeutet Opposition nicht Feindschaft, sondern eine andere Sicht auf das Notwendige, über die zu diskutieren wäre. Das war wohl auch die Position Bucharins, der überaus gebildet und philosophisch wie naturwissenschaftlich interessiert war und wusste, dass eine neue Gesellschaft nur mit den Menschen, aber nicht gegen die Menschen zu erreichen ist. Ähnlich wie Rousseau begriff er Kultur und Erziehung der Menschen zur Selbsttätigkeit als die Voraussetzung einer neuen, besseren Gesellschaft. Eine Vision, die heute übrigens genauso aktuell ist wie damals.
Natürlich hätte die Neue Ökonomische Politik, vereinfacht gesagt, eine kontrollierte kapitalistische Entwicklung, ins Gegenteil umschlagen können. Bucharin hatte wohl mit jenem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz »Bereichert Euch« nichts anderes sagen wollen als im Artikel 18 der Sowjetverfassung steht: »Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« Bucharins Forderung »Wer arbeitet, der soll auch essen« wurde jedoch vom sowjetischen Geheimdienst gegen ihn umgedreht.
Diese Biografie ist nicht nur dem Leben eines Mannes gewidmet, sie ist immanent auch eine Geschichte der russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale. Sie widerspiegelt die Diskussionen um den Aufbau des Sozialismus und über Grundfragen der marxistischen Theorie. Zugleich gibt sie Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Stalinismus.
Es ist zugleich eine höchst tragische Geschichte eines Menschen, der schon vor der Verhaftung um seinen Tod ahnte. Er hätte sein Leben retten können, wäre er bei einer Reise 1936 nicht zurückgekehrt, sondern im Ausland geblieben. Und es ist ein Hohelied auf einen tapferen Mann, der - wer könnte das schon?! - in Erwartung der Hinrichtung noch in der Zelle philosophische Schriften, Gedichte und den Torso eines autobiografischen Romans verfasste.
Hedeler legt schonungslos die Perfidie Stalins offen, der anderen Politbüromitgliedern vorwarf, sie wollten das Blut Bucharins sehen, nicht er. Und der die Unverfrorenheit hatte, während einer Hausdurchsuchung bei Bucharin anzurufen und zu fragen, wie es ihm gehe.
Hätte Bucharin noch gelebt und wäre er noch an einflussreicher Stelle, dann hätte Stalin wohl keinen Freundschaftsvertrag mit Hitler abschließen können, wie er es achtzehn Monate nach der Hinrichtung eines seiner prominentesten Opfer tat.
Was bleibt vom politischen und ökonomischen Werk Bucharins? Hedelers Fazit: »Viele Hypothesen Bucharins haben sich heute, auf dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Realsozialismus, als unhaltbar erwiesen. Doch selbst diese Illusionen und Irrtümer weisen Bucharin als einen den Apologeten des administrativen Kommandosystems weit überlegenen Theoretiker aus.«
Ein Buch wie dieses, das auf einer akribischen Auswertung unzähliger Quellen basiert und eine große Zahl interessanter Exkurse enthält, wie z. B. den über Bucharins Lehrer Alexander Bogdanow, der in Deutschland mit seinem utopischen Roman »Der rote Stern« bekannt wurde, dessen »Tektologie« aber leider unbekannt blieb, ist ein wahres Opus magnum, auf das Wladislaw Hedeler stolz sein kann.
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