Der Anfang vom Ende der DDR

Durch Gunnar Deckers packendes Buch schimmert die Idee, dass alles auch ganz anders hätte kommen können

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Was treibt einen Autor an, sich in all die Bücher, Filme und Theaterinszenierungen, Bilder und Skulpturen, auch in die wegweisenden ökonomischen und harschen kulturpolitischen Auseinandersetzungen jenes Jahres hineinzuwurmen, in dem er selbst gerade erst geboren worden ist? Liest man Deckers ungeheuer detail- und kenntnisreiche Monografie über das Jahr 1965, gewinnt man bald den Eindruck, dass es ihm darin zwar zuerst und zuvörderst um die präzise Rekonstruktion all jener Schaffensprozesse und Machtkämpfe geht, deren Folgen die daran Beteiligten allenfalls erahnen konnten. Dass es ihm aber offenbar auf mehr ankommt, darauf weist bereits das vorangestellte Heiner-Müller-Zitat hin: »... der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.«

Was ist an Zukunft begraben worden mit Fritz Cremer und Franz Fühmann, Brigitte Reimann und Maxie Wander, Stephan Hermlin und Wolfgang Langhoff, Erich Apel und Georg Klaus und mit all den anderen Wissenschaftlern, Politkadern, Künstlern, Intellektuellen, deren Geist Decker in Einzelkapiteln beschwört, die sich zum Ganzen fügen? Das ist die Frage, die durch jede Seite schimmert. Nicht zu Unrecht behauptet der Klappentext, hier werde »ein Kapitel jüngster Geschichte« aufgerissen, »dessen Tragweite erst mit diesem Buch deutlich wird«. Wie wäre es weitergegangen mit einer DDR, in der sich am Ende des »Schicksalsjahrs« - und insbesondere auf dem 11. Plenum im Dezember 1965 - nicht der Siegeszug der »Marxologen« (Dietmar Dath), Funktionäre und Dogmatiker um Erich Honecker angebahnt hätte, sondern die Reform- und Öffnungspolitik des hier so widersprüchlich gezeichneten Walter Ulbricht?

Ausgehend von einer deutenden Betrachtung der Fritz-Cremer-Skulptur »Der Aufsteigende«, von der eine Miniatur auch auf dem Schreibtisch Wolf Biermanns stand, unterteilt Decker sein Buch in zwei Hauptteile: »Der Aufstieg« und »Der Abstieg«. Am Ende stehen (oder liegen) »Die Trümmer«. »Der Aufstieg« beginnt bereits Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, spätestens aber mit der Reformpolitik »von oben«, die Ulbricht 1963 auf dem 6. Parteitag auf den Weg brachte. Parallel zu den Ideen des Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung und dem von Ulbricht forcierten Generationenwechsel an entscheidenden politischen Schnittstellen meldeten sich nun auch in der Literatur, auf dem Theater, in der bildenden Kunst und in der Musik immer mutiger die Jüngeren zu Wort, deren Ideen von einer sozialistischen Gesellschaft, in der es zu leben lohne, sich erheblich von denen der Älteren unterschieden. Ihr Versuch, sich »energisch aus der ideologischen Umklammerung zu befreien«, folgte nicht zuletzt aus einer Diskrepanz eigener Lebens- und Denkerfahrung zu jener der Gründerväter der DDR.

Ulbricht freilich, so unorthodox er in ökonomischen Fragen dachte, hatte klare Vorstellungen von den Funktionen der Kultur. Ein »Idealbild von Gesundheit, Fleiß, Sauberkeit und Humanität« prägte sein Kunstverständnis, schreibt Decker. Er führt diesen »kleinbürgerlich anmutenden Puritanismus« zurück auf Ulbrichts Herkunft. Aufgewachsen in einem Leipziger Viertel »mit Bordellen, Kneipen und Schmutz aller Art«, habe er sich zum begeisterten Goethe- und Schillerleser entwickelt, der die Klassiker allerdings nur vor seinem eigenen Horizont zu deuten und zu gebrauchen wusste.

Zum Verhängnis wurde den nach neuen Inhalten und Formen strebenden Künstlern die Tatsache, dass Ulbricht sich ausgerechnet in seiner Furcht vor den schädlichen Auswirkungen gewisser Werke einig war mit seinen parteiinternen politischen Widersachern. Die »Hardliner um Honecker«, schreibt Decker, »suchten nach Sündenböcken, denen sie NÖSPL als konterrevolutionäres Handeln unterschieben konnten. ... Und wieder stießen sie dabei auf Kunst und Literatur, ein Thema, bei dem Ulbricht regelmäßig den Dogmatiker hervorkehrte.« »Der Abstieg« - nicht nur jener der Künstler, sondern auch derjenige Ulbrichts selbst - setzt bei Decker mit dem 11. Plenum ein, auf dem eine strikt restriktive Kulturpolitik durchgesetzt wurde und dem zahlreiche Verbote von Kunstwerken folgten. Die Zeit der Hoffnung unter den freien Geistern ging zu Ende, Resignation trat an die Stelle der Utopien, Abkehr war das neue Gebot - Abkehr ins Innere, Abkehr auch vom Staat. Selbst wenn noch 24 Jahre bis zu ihrem Untergang vergehen sollten - es ist nicht schwer, diesen verlorenen »Kulturkampf« als Anfang vom Ende der DDR zu deuten.

Die Lektüre dieses Buches ist auch deshalb so anregend, weil es die Geschichte der DDR nicht, wie üblich, von ihrem Ende her erzählt, sondern von einem Angelpunkt aus, an dem noch vieles möglich schien.

Auf der Leipziger Buchmesse stellt Decker sein Buch am 14. März, 16.30 Uhr, am nd-Stand vor, Halle 5, D410.

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