Als stünde Helmut Kohl zur Wahl

Mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 endete der Versuch, die DDR zu erneuern

Vor 25 Jahren wurde in der DDR die Volkskammer gewählt - die erste freie Wahl des obersten Parlaments sollte auch die letzte sein.

Am 14. März 1990 war es mit der Herrlichkeit vorbei. Wolfgang Schnur, Vorsitzender der neuen Partei Demokratischer Aufbruch, trat nach tagelangem medialen Trommelfeuer zurück - vier Tage vor der Wahl zur DDR-Volkskammer, der ersten ohne Einheitsliste aller Parteien, sondern mit konkurrierenden Listen. Erst kurz zuvor war in den Medien der Verdacht lanciert worden, dass der Rechtsanwalt Schnur, der in der DDR namhafte Dissidenten wie die Künstler Freya Klier und Stefan Krawczyk vertrat, heftig mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperiert hatte. Schnur stritt das ein paar Tage lang ab, legte dann aber doch seine Ämter nieder, konnte allerdings nicht mehr von der Wahlliste gestrichen werden, auf der er als Spitzenkandidat seiner Partei figurierte.

Wolfgang Schnur, ein kleiner, eitler Mann mit stechendem Blick und unübersehbarem Sendungsbewusstsein, der bis zu seinem Absturz das Rampenlicht suchte, hatte sich im Herbst 1989 zielstrebig an die Spitze des Demokratischen Aufbruchs gesetzt. Dessen Mitgliedschaft war zunächst - wie bei vielen neuen Oppositionsgruppen - maßgeblich vom Zufall bestimmt worden. In den turbulenten Wochen des politischen Umbruchs in der DDR war kaum Zeit gewesen, lang und breit über politische Programme zu diskutieren. Das hektische, sich überstürzende Tagesgeschehen hielt alle in Atem, und so trafen sich nicht nur im Demokratischen Aufbruch Menschen mit ganz verschiedenen Ansichten von stockkonservativ bis linksliberal, die sich erst nach und nach politisch ein- und umsortierten. Kleinster gemeinsamer Nenner: weg mit der etablierten Macht, demokratische Wahlen nach 40 Jahren SED-Herrschaft. Die Volkskammerwahl vom Frühjahr 1990 sollte das demokratische Siegel für die gesellschaftlichen Veränderungen des Herbstes ’89 sein.

Volkskammerwahl vom 18. März 1990

Die Wahl zur DDR-Volkskammer sollte ursprünglich am 6. Mai 1990 stattfinden. Unter dem Druck der rasanten politischen Entwicklung wurde sie auf den 18. März vorgezogen.

Zugelassen waren 23 Parteien und politische Vereinigungen, die sich um 400 Mandate bewarben. Da es keine Sperrklausel gab, genügten für ein Mandat schon 0,125 Prozent der Stimmen.

Sieger der Wahl wurde entgegen allen vorherigen Umfragen die konservative Allianz für Deutschland, deren mit Abstand stärkste Kraft die DDR-CDU (40,8 Prozent) war. Die SPD, die auf den Wahlsieg gehofft hatte, erreichte enttäuschende 21,9 Prozent, die PDS kam auf 16,4 Prozent. Die Bürgerrechtler von Bündnis 90 landeten mit nur 2,9 Prozent weit abgeschlagen.

Die Wahlbeteiligung lag bei für heutige Verhältnisse unvorstellbaren 93,4 Prozent.
Leiterin der Wahlkommission war die Studentin Petra Bläss vom Unabhängigen Frauenverband.

Nach der Wahl wurde eine Regierung aus dem konservativen Bündnis und der SPD gebildet. Ministerpräsident wurde der Rechtsanwalt Lothar de Maizière. wh

Schnur hatte sich große Hoffnungen gemacht und sich dabei gründlich verschätzt. Noch im Februar 1990 hatte er mit der größenwahnsinnigen Prognose Schlagzeilen gemacht, er sei der künftige Ministerpräsident der DDR. Natürlich hätten die westdeutschen Paten des DDR-Wahlkampfs lieber jemanden als Wahlsieger gesehen, der nichts mit dem System der Blockparteien zu tun hatte. Aber erstens war Schnur - wie sich herausstellen sollte - auf ganz andere Weise belastet, und zweitens traute die Masse der DDR-Wähler den vielen politischen Neugründungen nicht so recht über den Weg.

Jedenfalls gingen sie größtenteils auf Nummer sicher und stimmten in einer Mischung aus westdeutschem Muster und Vertrautem aus dem Osten ab. Überraschend klarer Gewinner der Wahl wurde das von der West-CDU/CSU geschmiedete Bündnis aus DDR-CDU und zwei Anhängseln, dem CSU-Ableger DSU und dem Demokratischen Aufbruch. Die Ost-SPD, die in den damals eher vagen Umfragen deutlich geführt hatte, blieb weit hinter den Erwartungen zurück, die vormalige Staatspartei PDS rettete sich auf eine stark zusammengeschmolzene Kernwählerschaft.

Damit war der Zug endgültig in Richtung baldige deutsche Vereinigung abgefahren; die Weichen dafür waren schon vorher gestellt worden. Die seit Spätherbst 1989 amtierende DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow geriet politisch und wirtschaftlich zunehmend in Schwierigkeiten. Schlagzeilen wie »Demos in mehreren Städten gegen DDR-Ausverkauf« oder »Gewerkschaften wollen jedem Sozialabbau wehren« bestimmten zunehmend die Medien.

Die neuen politischen Kräfte drängten an den Runden Tischen, einer basisdemokratischen Parallelmacht, auf schnelle Veränderungen, weshalb die Volkskammerwahl vom eigentlich geplanten Termin 6. Mai auf den 18. März vorgezogen wurde. Und die bundesdeutsche Kohl-Regierung kämpfte an allen Verhandlungsfronten dafür, die DDR einzukassieren. Am liebsten hätte sie im Hauruck-Verfahren den Anschluss nach Grundgesetz-Artikel 23 proklamieren lassen, musste dann aber doch - aus Rücksicht auf »andere interessierte Staaten«, wie es hieß - einen Gang herunterschalten und die Wahlen in der DDR abwarten. Den Alliierten war der Drang in Richtung eines großen Deutschlands zunächst nicht geheuer.

Dennoch war der letzte - und im eigentlichen Sinne auch erste - DDR-Wahlkampf eine politische Kampagne nach dem Muster und den Maßgaben der westdeutschen Demokratie. Die großen Parteien der Bundesrepublik pumpten Geld, Material und Personal in den Osten; das konservative Wahlbündnis nannte sich ganz ungeniert Allianz für Deutschland. Bundeskanzler Kohl hatte längst erkannt, dass er sich mit dem unverhofft aufgetauchten Thema deutsche Einheit über seine innenpolitischen und innerparteilichen Probleme hinweg retten könnte und machte den DDR-Wahlkampf zum Kern seines eigenen Überlebenskampfs. »Ich sehe, wie viele Besucher aus der Bundesrepublik kommen und wie sie sich in die Angelegenheiten der DDR einmischen - als ob die DDR bereits kein souveräner Staat mehr wäre«, stellte damals der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow fest. Der Bürgerrechtler Gerd Poppe sagte im ND-Interview, man habe den Eindruck, »dass die Herren Kohl, Lafontaine, Genscher am 18. März zur Wahl stehen und nicht Kandidaten aus der DDR«. Und die Leiterin der DDR-Wahlkommission, Petra Bläss, bedauerte, dass der Beschluss des Runden Tisches, »den Wahlkampf ohne ausländische Einmischung durchzuführen, nicht eingehalten wurde«.

Weil diese Volkskammerwahl keine Prozenthürde kannte - immerhin eine kurzzeitige basisdemokratische Errungenschaft der Wende in der DDR -, schaffte es auch eine Reihe kleiner Wahllisten ins letzte DDR-Parlament. Für die Bürgerrechtler vom Bündnis 90 beispielsweise bleiben enttäuschende zwölf Mandate, der alteingesessene Demokratische Frauenbund erreichte ebenso wie die Vereinigte Linke ein Mandat. Andere fielen durch und verschwanden im Orkus der Geschichte: Vereine wie die Deutsche Biertrinker Union, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei oder die Christliche Liga blieben Fußnoten der Wendegeschichte.

Mit der neuen Macht hatten sie alle nichts zu tun - ins Amt kam für ein letztes halbes Jahr eine Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten, die es als wichtigste Aufgabe ansah, im Eilzugtempo den Weg zur deutschen Einheit freizuräumen und sich damit selbst überflüssig zu machen. Die DDR wurde nicht mehr erneuert, sie wurde abgeschafft.

Bemerkenswert an dieser letzten Volkskammer war der massenhafte Einzug von Seiteneinsteigern ins Parlament. Was ansonsten die Ausnahme ist, wurde im Frühjahr 1990 zum Prinzip. Die allerwenigsten neuen Abgeordneten kannten vorher schon den Plenarsaal im Berliner Palast der Republik von innen. Der Umsturz der Verhältnisse in der DDR brachte alle möglichen Leute auf die politische Bühne: Irrlichter wie Wolfgang Schnur und den Vorsitzenden der Ost-SPD Ibrahim Böhme, der sich später ebenfalls wegen schwerwiegender Stasi-Vorwürfe zurückziehen musste. Heillos Überforderte wie die neue Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl. Kluge Köpfe wie den Molekularbiologen Jens Reich und den Umweltschützer Ernst Dörfler, die sich alsbald wieder aus einem politischen Geschäft verabschiedeten, in dem sie sich fremd fühlten. Turbokarrieristen wie den Staatssekretär und späteren Bundesminister Günther Krause, der Opfer seines maßlosen Egos wurde. Wirkliche Volksvertreter wie die spätere Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt. Politische Dauerbrenner wie Gregor Gysi, Wolfgang Thierse, Matthias Platzeck und Joachim Gauck.

Für eine junge Frau im Hintergrund war die Wahl vom 18. März ebenfalls eine entscheidende Station. Sie war Ende 1989 zum Demokratischen Aufbruch gestoßen und von Parteichef Schnur im Februar 1990 zu seiner Pressesprecherin ernannt worden. Wahlsieger Lothar de Maizière machte sie im April zur Vize-Regierungssprecherin. Von da an führte ein langer, geradliniger Weg unaufhaltsam bis mitten ins Kanzleramt.

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