Die Tür klemmt gewaltig
Gabriele Krone-Schmalz über das Tief in den Beziehungen zu Russland, die ukrainische Krise und unnötige Manöver
Jüngst war im Fernsehen wieder eine Bestätigung Ihrer Medienkritik zu erleben. Während tagelang behauptet wurde, das Abkommen von Minsk sei gescheitert und von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, wird nun mit dem Abzug der schweren Waffen verwundert gefragt: »Ist das denn gut? Was soll man davon halten?« Was halten Sie von all dem?
Genau das ist es, was mir auf die Nerven geht. Als Journalist muss ich zunächst einmal sachlich darüber berichten, was in Minsk vereinbart wurde und nicht gleich wieder orakeln, das Abkommen werde sowieso nicht erfüllt. Man kann eine Vereinbarung kritisch hinterfragen, aber sollte sie nicht niederschreiben oder niederreden, sondern den betreffenden Parteien erst einmal eine Chance einräumen, ihre Ernsthaftigkeit und ihren Willen zur Einhaltung des Vertrages unter Beweis zu stellen.
Sie beklagen in Ihrem Buch vor allem die Berichterstattung in den Öffentlich-Rechtlichen Sendern, die vom Bundeshaushalt und von uns Gebühren- und Steuerzahlern finanziert werden ...
Ich beklage nicht vor allem den Journalismus in den Öffentlich-Rechtlichen, habe aber deren Berichterstattung genauer untersucht, weil ich für sie gearbeitet habe. Deswegen schau ich da genauer hin, als auf die Berichte der Privatsender.
Die Berichte auf ARD und ZDF in Bezug auf den Ukraine-Konflikt stehen oft diametral den Verlautbarungen der Bundesregierung gegenüber. Wie beurteilen Sie die Politik der Regierung Merkel in diesem Fall?
Ich bin sehr froh, dass Frau Merkel und Herr Steinmeier alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um zu deeskalieren, diplomatische Mittel zu nutzen und sich nicht in die Ecke der »Kriegstreiber« drängen zu lassen. Es kann nur eine friedliche Lösung geben. Das ist schwierig genug angesichts der Lage, in die wir uns hinein manövriert haben. Frieden erreicht man nicht durch aggressive Töne. Und auch nicht, indem man der einen oder anderen Seite Waffen liefert.
Der US-republikanische Senator John McCain hat dem deutschen Außenminister vorgeworfen, eine Appeasement-Politik zu betreiben.
Das ist absoluter Unfug. Von einer vernünftigen Außenpolitik darf man erwarten, dass sie sich – wie es immer so schön heißt – unseren Werten verpflichtet fühlt. Dazu gehört die Vermeidung von Kriegen oder, wenn sie bereits ausgebrochen sind, deren schnellstmögliche Beendigung. Das hat mit Appeasement nichts zu tun. Man muss versuchen, zu retten, was zu retten ist – und zwar mit anderen Mitteln als mit Waffen. Das gebietet die Menschlichkeit.
Sie sagten eben, die Lage sei festgefahren. Wie gelangen wir oder besser: die Russen und Ukrainer aus der prekären Misere? Was wäre Ihre Lösung? Gibt es überhaupt eine? Oder müssen wir uns auf einen permanenten Kriegszustand wie schon anderswo in der Welt einstellen?
Um Himmels Willen! Ich hoffe noch immer darauf, dass sich auf allen am Konflikt beteiligten Seiten – und dies sind mehr als zwei – Entscheidungsträger durchsetzen, die aufeinander zugehen, ohne sich um solch alberne Kriterien wie eventuellen Gesichtsverlust zu scheren. Der Westen hat keine andere Möglichkeit, als auf Russland zuzugehen. Bei aller Kritik die man haben kann und haben muss – Konfrontation hat noch nie zu etwas Konstruktivem geführt.
Es sind sogar mehr als drei Konfliktparteien.
Ja. Und das macht es ja auch so kompliziert. Wundervolles hätte entstehen können, wenn Kiew, Moskau und Brüssel sich zu einem frühen Zeitpunkt, im Zusammenhang mit dem EU-Assoziierungsvertrag, zusammengesetzt und gemeinsam überlegt hätten: Wie kriegen wir die Kuh vom Eis? Die Ukraine war schon Ende 2013 pleite. Man hätte sich um ein intelligentes Modell bemühen können, bei dem sich die Ukraine nicht für eine Seite entscheiden muss. Sie hätte als Brücke zwischen Ost und West fungieren können. Klar ist, dass die EU alleine die Ukraine nicht stemmen kann, sie würde sich an ihr verheben. Und klar ist ebenso, dass die über Jahrhunderte gewachsenen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, ob sie einem passen oder nicht, nicht mit einem Federstrich folgenlos ausgelöscht werden können.
Wenn man einem Land auf die Füße verhelfen möchte, zettelt man nicht Streit an. In dem unwürdigen Gezerre um die Ukraine – einerseits die EU mit ihrem Assoziierungsabkommen, andererseits Russland mit seiner Zollunion – sind die Vielfalt und die inneren Widersprüche der ukrainischen Gesellschaft in den Hintergrund getreten. Die politische Elite in der Ukraine hat sich nach der Orangenen Revolution noch gefräßiger und korrupter gebärdet als zu Sowjetzeiten. Und es ist ein Trugschluss zu glauben, alle Menschen wünschten sich sehnlichst die Aufnahme in die sogenannte westliche Wertegemeinschaft. Im Frühjahr 2013 haben nur knapp 40 Prozent der Ukrainer für die EU, ein Drittel aber für Russland votiert.
Im Jahr 882 entstand die Kiewer Rus, das war die Geburtsstunde des Russischen Reiches. Das Gebiet der heutigen Ukraine gehörte im Laufe der Jahrhunderte zu Polen, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen und dem Russischen Reich. Hier lebten und leben als starke Minderheiten nicht nur Russen, sondern auch Polen, Deutsche, Rumänen und Tschechen, Juden und Muslime. Meines Erachtens hat man die Chance auf eine intelligente föderale Struktur verschenkt.
Man hat sich mittlerweile wohl mit dem Referendum auf der Krim abgefunden. Deren Loslösung nennen Sie, dem deutschen Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel folgend, Sezession statt Annexion.
Es wird gemeinhin immer noch von »völkerrechtswidriger Annexion« durch Russland gesprochen, bei einigen jedoch hat sich der realpolitische Ansatz durchgesetzt. Die Lostrennung der Krim von der Ukraine wird zwar nicht akzeptiert, aber doch irgendwie hingenommen. Es nützt ja auch nichts, Hürden aufzustellen, die man nicht nehmen kann, über die man nicht rüberkommt.
Manche prophezeien, Russland werde nun auch die Ostukraine »schlucken«.
Da frage ich mich: Wer hat ein Interesse an der Fehlwahrnehmung russischer Interessen?
Jene, die sich gern als alleinige Supermacht gerieren und Russland als unbedeutende Regionalmacht klassifizieren? Die Europäische Union ist in ihrer Haltung zu Russland gespalten.
So ist es. Ich habe zu einem relativ frühen Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass mit der Erweiterung der EU durch Staaten des ehemaligen Ostblocks diejenigen, die noch offene Rechnungen mit Moskau haben oder zu haben glauben, Entscheidungen zu beeinflussen versuchen. Dem sollte man intelligent gegensteuern. Und zwar so, dass man die Ängste und die Sorgen der neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten ernst nimmt, aber sie – angesichts ihrer negativen Erfahrungen in der Vergangenheit – nicht etwas bestimmen lässt, das zurück, statt nach vorne führt. Es ist fatal, wenn Vertrauen mühselig aufgebaut ist und schon im nächsten Moment mit einem gewissen Körperteil wieder eingerissen wird. Ein Beispiel: Die Ostsee-Pipeline war ein prioritäres Projekt der EU, nicht eine private Nummer von Herrn Schröder und Herrn Putin. Doch Polen schmeckte sie nicht.
Russophobie ist in unserem östlichen Nachbarland leider stark ausgeprägt.
Das mag sein. Ich habe einige polnische Bekannte und Freunde und glaubte, sie würden mir mein Buch verübeln. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass auch sie der Meinung sind, man sollte versuchen, Russland zu verstehen, um eine vernünftige Politik zu gestalten, von der alle profitieren. Diese Ansicht ist in Polen durchaus verbreitet. Vielleicht driften auch in Polen veröffentlichte und öffentliche Meinung auseinander wie bei uns?
Vor allem die baltischen Staaten versuchen immer wieder, die EU auf antirussischen Kurs zu drängen.
Manche Äußerungen ihrer Führungen sind sehr martialisch und haben nicht viel mit der Politik zu tun, für die vor gar nicht allzu langer Zeit die EU den Friedensnobelpreis erhielt.
Darf und kann man von Putin erwarten, dass er – wenn im Baltikum NATO-Jäger aufsteigen oder US-Kreuzer das Schwarze Meer pflügen – mit dem Bollerwagen an der Grenze steht und salutiert?
Nein. Und ich habe kein Verständnis dafür, dass man in der jetzigen Situation solch aufgeblasene Manöver abhält. Das ist, dezent formuliert, kontraproduktiv. Das Argument, eine lange geplante Militärübung könne man ebenso wenig wie einen riesigen Tanker abrupt stoppen, überzeugt mich nicht.
Ist Putin ein Autokrat? Ein »lupenreiner Demokrat« gewiss nicht.
Mit dieser Bezeichnung hat Herr Schröder Herrn Putin wahrlich keinen Gefallen getan. Ein »lupenreiner Demokrat« ist Putin wohl auch nach eigenem Verständnis nicht. Fakt ist, dass die politische Ausrichtung Putins zu Beginn seiner Amtszeit eine andere war als sie es jetzt ist.
Er hat dem Westen die Hand reichen wollen.
Putin hat sie mehrfach gereicht. Er hat in Serie Signale Richtung Westen gegeben und sie sind entweder nicht zur Kenntnis genommen oder abgelehnt worden. 2008 gab es erneut einen russischen Vorschlag für einen europäischen Sicherheitsvertrag. Die ständige Diffamierung, Brüskierung und Ignorierung russischer Initiativen und Interessen hat dazu geführt, dass auch die russische Bevölkerung dem Westen misstraut. Verpasste Chancen. Was hätten wir alles gemeinsam schaffen können!
Was zum Beispiel?
Russland gehört zu Europa. Die EU und Russland wären gemeinsam auf wirtschaftlicher Ebene stärker und auch hinsichtlich der Wahrung ihrer nationalen Sicherheit besser gewappnet für die globalen Herausforderungen. Ohne Russland wird die EU in der Konkurrenz mit den neu aufstrebenden Weltmächten wie China und Indien unterliegen.
Was ist zu tun? Oder ist die Tür definitiv zugeschlagen?
Ich würde sagen: Die Tür klemmt. Wegen der vielen Verletzungen, Affronts und Demütigungen. Es ist ziemlich viel eingerissen worden, die Stimmung ist mies, von Vertrauen gar nicht zu reden. Es bedarf großer Anstrengungen, aus diesem Tief in den Beziehungen heraus zu kommen und wieder ein Niveau von Zusammenarbeit zu erreichen, das wir schon mal erreicht hatten.
Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben?
Es bleibt einem nichts anderes übrig, als zu hoffen. Mit Pessimismus kommt man nicht weiter. Ich versuche, optimistisch zu bleiben und weiterhin dazu beizutragen, dass immer mehr Menschen verstehen, was Sache ist und möglichst konstruktiv gute und intelligente Entscheidungen treffen.
Gorbatschows Idee des Europäischen Hauses ist »grandios« gescheitert. Wäre der Gedanke einer Aufnahme Russlands in die EU zu utopisch?
Ich glaube, das wäre ein ziemlich gewagter Schritt, Russland ein zu »großer Brocken« für die EU. Ich weiß auch nicht, ob das unbedingt nötig ist. Es würde ja schon reichen, wenn man sich gegenseitig versichert, auf einer qualitativ hohen Ebene zusammenarbeiten zu wollen. Und dass man nicht noch weitere Nachbarstaaten Russlands in die westliche Gemeinschaft hinüberzieht.
Da ist die NATO vor. Eine Annäherung zwischen EU und Russland auf Augenhöhe scheint nicht in deren, sprich nicht in US-Interesse zu sein.
Das ist offensichtlich. Eine gleichberechtigte Partnerschaft ist eindeutig nicht im Interesse der USA.
Wie schätzen Sie die Haltung in der deutschen Bevölkerung zu Russland ein?
Ich habe den Eindruck, dass der Unterschied zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung immens ist. Noch nie habe ich erlebt, dass sich die Menschen so massenhaft und leidenschaftlich bei ihren Sendern und Zeitungen beschweren, weil sie sich einseitig informiert fühlen. In der Bevölkerung scheint ein feines Gespür dafür vorzuherrschen, dass irgend etwas nicht stimmen kann, wenn die Etikette Gut und Böse so leichthändig verteilt werden. In einer Demokratie gibt es das verbriefte Recht auf eine qualitätsvolle, umfassende und ausgewogene Information. Pressefreiheit bedeutet, dass Journalisten präzise informieren, Politik erklären und, wenn nötig, auch kritisieren, aber nicht versuchen, Politik zu machen.
Ich vermute, die meisten empörten Anrufe bei ARD und ZDF kamen von Ostdeutschen, die mit einem anderen Russlandbild als die meisten Westdeutsche aufwuchsen und auch vielfach direkte Kontakte zu Russen und Angehörigen anderer Nationalitäten der ehemaligen Sowjetunion pflegten.
Das kann gut sein.
Sie waren 1987 bis 1991 ARD-Korrespondentin in Moskau, in einer hoch spannenden Zeit. Haben Sie damals geahnt, dass ethnische Spannungen so stark aufflammen würden, wie sie dann mit dem Zerfall der Sowjetunion aufflammten?
Ethnische Spannungen gab es schon, als ich in Moskau akkreditiert war – in Armenien, Aserbaidschan, Tschetschenien und im Baltikum. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass mit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation paradiesische Zeiten anbrechen, hegte aber doch die Hoffnung auf ein friedlicheres Zusammenleben der Völker. Ich ärgerte mich damals über einen älteren, gestandenen Politiker, der warnte, wir würden den Zeiten der Ost-West-Konfrontation noch hinterher trauern, denn es würden Regionalkonflikte auf uns zu kommen, die viel schlimmer, blutiger und unübersichtlicher sein werden.
Er hat recht behalten.
Ich wollte es nicht wahrhaben, aber er hatte recht. Wir hätten das verhindern können, wenn wir frühzeitig eine vernünftige, tragfähige Sicherheitsarchitektur mit Russland geschaffen hätten.
Würden Sie von einem neuen Kalten Krieg sprechen?
Nein. Wir haben eine Situation, die von Misstrauen und konfrontativer Politik geprägt ist. Das reicht mir schon als Bezeichnung.
Sie werden wegen Ihres Bemühens, Russland zu verstehen, immer wieder verbal und übelst angegriffen. Wie verkraften Sie das?
Erstens bin ich stabil erzogen worden, zweitens habe ich einen wunderbaren Mann, der mir den Rücken stärkt, und zwar schon seit über drei Jahrzehnten, und drittens ist der Zuspruch, den ich aus der Bevölkerung erfahre, wirklich überwältigend.
»Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens« vor (C.H. Beck, 176 S., br., 14,95 €), Bestellung über nd-Buchshop, Tel.: 030/29 78 17 77
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