Dass ein gutes Deutschland blühe

Der 8. Mai bleibt ein Tag bitterer Erinnerung und ein Tag von außen gewährter neuer Chancen. Von Friedrich Schorlemmer

  • Friedrich Schorlemmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Eines muss auch 70 Jahre danach erinnert werden, wenn wir an den Tag der Befreiung erinnern:

Deutschland ist nicht aus eigener Kraft von seinem verbrecherischen Wahn in die Menschlichkeit zurückgekehrt! Bittere Erkenntnis, nirgendwo in jenen Tagen so deutlich beschrieben wie von Thomas Mann. Niederlage war gleichzeitig Befreiung. Demütigung war gleichzeitig Rückkehr in die Zivilisation. Andere brachten Opfer, auch für uns - allen voran die Völker der damaligen Sowjetunion - und forderten nun Opfer von uns, unter uns, gerechte und ungerechte, persönlich verdiente und gänzlich willkürlich zugemessene Strafe.

Die Sieger aus dem Osten haben uns dann auch »befreit« von dem, was nicht niet- und nagelfest war, plünderten unsere Industrieanlagen aus (ohne davon selber wirklichen wirtschaftlichen Gewinn zu haben), schleppten unsere Blüthner-Flügel, Teppiche und Gemälde ab. Davon durfte hierorts 45 Jahre lang nicht die Rede sein. Wird nun nur noch davon die Rede sein und wird die besondere Rolle der UdSSR beim verlustreichen Kampf gegen Nazi-Deutschland nun kleingeredet? Aufrechnen zum Abrechnen mit den Siegern, denen Hitler mit seinem Krieg angeblich »nur zuvorkommen« wollte, führt in die Irre. Und nun: Welch ein Bild von »den Russen« wird 2015 vorurteilsvoll bis feindbildbesessen wieder gemalt! Russland wird in Serie abgestraft und isoliert. Nicht umgangen werden kann allerdings der völkerrechtswidrige Anschluss der Krim 2014 an Russland, ebenso wie völkerrechtswidrige Akte auf dem Balkan seit 1994 unvergessen bleiben.

Ein deutscher Präsident, der immer noch nicht nach Moskau geflogen ist und nun zum 9. Mai auch nicht dorthin fliegt, verrät wenig Gespür für Geschichte und für nachwirkende Folgen vollzogener oder ausgebliebener symbolischer Akte. Und dass Putin die bisher pompöseste Militärparade auf dem Roten Platz abnimmt, ist in der so gespannten Gesamtlage nicht gerade ein Friedens- und Entspannungssignal, weshalb kaum westliche Repräsentanten der Einladung folgen können.

Sollten zudem für den deutschen Präsidenten gar persönliche Motive eine Rolle spielen, da sein Vater wegen vorgeworfener Kontakte zu einem Geheimdienst der »freien Welt« jahrelang in ein sowjetisches Lager verfrachtet worden war? Zur Erinnerung: Entspannungspolitik wurde seit 1968 erfolgreich, weil man selbst mit sehr schwierigen Gegnern intensiv redete, deren Interessen, Ängste, historische Erfahrungen und heutige Absichten genauso wie die eigenen einbezog. Beharrlich, diskret, offen, mit langem Atem aus Gegnern Partner machen - Feindbilder abbauen und Waffen abbauen. Gemeinsame Sicherheit suchen, also Sicherheit nicht mehr gegeneinander errüsten, sondern miteinander vereinbaren. Und das nach dem Einmarsch in Prag im August 1968! Und war da nicht noch was auf der »anderen Seite« - in Vietnam oder Chile, mit Franco und Salazar, mit den Diktatoren Mittel- und Südamerikas? Historische Erfahrungen haben eine lange Verfallszeit oder umgekehrt eine motivierende Langzeitwirkung.

Wieviel mehr mussten uns die Alliierten nach 1945 nachsehen, bis wir Deutsche Schritt für Schritt nicht nur wieder anerkannter Teil der Zivilisation werden konnten, sondern eine besondere Verpflichtung zum Friedenserhalt hatten und sie im Kalten Krieg auch wahrzunehmen lernten. Unter vielen Konflikten; von innen und außen.

So hart das war und in der Erinnerung an ein zerbombtes und moralisch zerrüttetes Land bleibt: Ganz unten musste Deutschland 1945 liegen, um ganz neu anfangen zu können - aber mit dem schweren Schuldgepäck bisher ungekannten Verbrechens in deutschem Namen, mit deutscher Gründlichkeit, perversestem Leistungswillen beim Morden, gewissenlosem Gehorsam und bedingungsloser Treue gegenüber »dem Führer«. Besudelt wurde sogar unsere Sprache. Deutscher Widerstand war so mutig und vielgestaltig, wie er viel zu wenig Unterstützung im Lande der verblendeten »Endsieger« fand. Parieren und Paradieren gehören zusammen. Das hat in Deutschland lange Tradition. Die Vorbei-Paradierenden sind auch die Gehorsam-Parierenden. Man kann sich nicht dadurch zu entlasten suchen, dass man doch immer nur parieren musste.

Wir gedenken alljährlich des 20. Juli 1944. Diese Verschwörung war wichtig, sonst stünden wir alle am Pranger. Daneben ist eine schwierige, ja schreckliche Frage zu stellen: Angesichts dieses Wahns unseres Volkes, mit soviel destruktiver Wucht und Kraft in die Welt getragen, von einer Mehrheit fanatisch unterstützt, gehorsam mittrottend bis zum bitteren Ende - angesichts dieses Anmaßungswahns musste der 20. Juli 1944 stattfinden als Zeichen, dass es auch ein anderes Deutschland gab. (Dass der andere, der linke Widerstand viel früher eingesetzt und viel mehr Blutzoll gezahlt hatte, wurde im Westen lange Zeit zu wenig gewürdigt.)

Und doch musste der Attentatsversuch - in größerer Perspektive gedacht - auch scheitern. Hitler-Deutschland musste an sich selbst zugrunde gehen, damit der Diktator nicht als verratener Held wieder auferstehen konnte. Schmerzliche Erkenntnis: Deutschland brauchte tiefe Demütigung, solch furchtbare Desillusionierung, ohne irgendeinen Ersatz-Schuldigen glaubhaft ausmachen zu können. Es durfte kein Zweifel an der selbst verschuldeten totalen Niederlage, an der bedingungslosen Kapitulation, der Zerstörung des deutschen »Großreiches« aufkommen. Und alle deutsch-nazistischen Verbrechen mussten sodann schonungslos durch die Sieger offengelegt werden. Die Deutschen mussten sich dem stellen. So wurden die Weimarer Bürger im April 1945 gezwungen, sich das KZ Buchenwald nach der Befreiung zuzumuten. Niemand kann sich - vergleichend - dadurch entlasten, dass es danach genau dort oben ein sowjetisches »Speziallager« gab.

Auch wenn es schwer begreiflich blieb, dass der Bundespräsident nicht zum 27. Januar 2015 nach Auschwitz gereist war, so hat er doch nun in Stukenbrock lange fällige, beeindruckend klare und einfühlsame Worte für das - vor allem im Westen - weithin verdrängte furchtbare Leiden und elende Sterben Hunderttausender sowjetischer Gefangener gefunden: »In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete und Geschlagene.« Es bleibt wichtig, die sowjetischen Ehrenmale zu erhalten und zu pflegen, selbst wenn ihre Gestaltung bisweilen befremdend ist. 27 Millionen Menschen aus den Völkern der Sowjetunion haben ihr Leben für unsere Befreiung lassen müssen. Und »wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf der ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein«, so Gauck.

Der letztlich - nachträglich - von Dankbarkeit geprägte Tag der Befreiung ist somit immer auch ein Tag des Erschreckens, der Scham, der Warnung und Mahnung, der Verpflichtung und der Chance zugleich. Er bleibt ein entscheidender Denk-Tag für unsere Nation.

Das Doppeldeutige dieses Tages bleibt. Denn man kann schlecht besiegt und zugleich befreit werden. Niederlage als Befreiung? Ja! Es war Ende des Sirenengeheuls, Ende der Goebbelsschen Massendemagogie, Ende der Deportationen und der Menschenvernichtungsmaschinerien, Ende des rassistisch-nationalistischen Größenwahns, Ende des selbstentmündigenden Führerkultes, Ende der Knebelung des freien Geistes und freien Wortes. Und es war Anfang für ein demokratisches Deutschland, das an große Traditionen anknüpfen konnte und sich langsam wieder in die zivilisierte Welt einreihen durfte. Im Westen wurden die allgemeinen Menschenrechte im Grundgesetz festgeschrieben und Gewaltenteilung praktiziert. Die DDR verstand sich als Fortschritts- und Friedensstaat mit sozialer Gerechtigkeit.

Wir werden nicht das Leiden verschweigen dürfen, das viele Menschen nach 1945 zu ertragen hatten, zumal die über 15 Millionen aus den früheren Ostgebieten Vertriebenen. Es geht darum, Ursache und Folge nicht durcheinanderzubringen und keine Gleichgewichtigkeit der Verbrechen zu behaupten, die durch das Verwischen der Proportionen allzu leicht zur Relativierung gerät. (Unsäglich war in den vergangenen Jahren der Streit um das »Zentrum gegen Vertreibung«.)

Wahr ist, dass die Mehrheit der Deutschen den 8. Mai im Jahre 1945 nicht als Befreiung empfinden und erfahren konnte. Genau dies gehört zu den schrecklichen und für ein Volk schweren Bürden, dass nur wenige Deutsche spürten, dass dies für sie letztlich eine unverdiente Befreiung war.

Die Leidtragenden wurden von den Folgen des Wahns befreit. »Nackt unter Wölfen« - 2015 neu verfilmt - bringt es eindrücklich in die Bild-Erinnerung. Die Zerschlagung des deutschen Über-Macht-Wahns forderte Opfer, brachte schließlich Leid auch über Deutsche. Die Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands war die Voraussetzung für eine demokratische friedliche Entwicklung Deutschlands. Dieses Datum und dieses Faktum verlangen und behalten generationsübergreifende Relevanz.

Es bleibt ein Tag bitterer Erinnerung und ein Tag von außen gewährter neuer Chance. Rückblickend können wir 2015 sagen: Ja, auch wir wurden befreit. Die damalige Niederlage war letztlich unser Glück, trotz der 40 Jahre währenden Teilung. Nie wieder »Deutschland, Deutschland über alles«, sondern:

»Anmut sparet nicht noch Mühe,

Leidenschaft nicht noch Verstand,

daß ein gutes Deutschland blühe

wie ein andres gutes Land.«

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