Wer strich das Wort Befreiung?
Zum 8. Mai wurde in der Konzertkirche Neubrandenburg Verdis Requiem aufgeführt
Nach 18 Uhr ist Ruhe in der durch vier Tore markierten Altstadt. Die Cafés machen um 18 Uhr dicht. Restaurants muss man suchen. Parken kann der Autofahrer ab 19 Uhr ohne Gebühr. Welche Freundlichkeit. Den gefliesten Marktplatz begrenzen, wie so oft in Städten der Gegend, hässliche Betonklötze. Baugerüste ragen am Schiff der Konzertkirche hinauf. Drin erwartet man das Publikum zur Aufführung von Verdis Requiem. Menschen sind noch kaum zu sehen. Die zahllosen Plattenbauten jenseits der Altstadt sind nicht fern. Beiderseits der Zufahrtsstraßen gelegen, verraten sie einiges über die Massenarchitektur der DDR - weit mehr jedoch über die Zeit von vor 70 Jahren.
Bedenklich der Bock, den die Neubrandenburger Philharmonie als Veranstalterin der Konzerte am 7. und 8. Mai schoss. Sie kündigte die Aufführung des Requiems »zum Tag der Befreiung« an. Übrig blieb auf den Plakaten ein Konzert »zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges«. Das Programmheft schweigt darüber gänzlich. Anpassungsdruck? Nee. Dass vor 70 Jahren eine geschichtliche Befreiungstat der Alliierten ihre Krönung fand, darf jeder Geiger, jeder Dirigent, jeder Intendant, jede auf der Rührtrommel tanzende Maus sagen. Dann also politische Dümmlichkeit und Begriffsstutzigkeit? Das sehr wohl. Der Duckmäuser gibt es genug - auch in den Büros der Kultur. Das sind die Mittäter bei den Abrissarbeiten - nicht mit Hämmern und Bulldozern, sondern mit dem Instrument des Rotstifts. Solche, die selbst die berühmte Weizsäcker-Rede von ’85 ignorieren und Klaviertasten nur aus dem Fernsehen kennen. Wer hat da mit wem telefoniert in dem Bewusstsein, dass die herrschende Geschichte immer die der Herrschenden zu sein hat?
Blöd, derlei Fall überhaupt anzuführen. Das sind Details, die kursieren überall. Tausendfach gehen Feigheit und Lernunwilligkeit, staatlich gedeckt, um. Im Detail jedoch wohnt oft genug das großen Ganze. Aber vielleicht hat sich einer der Verantwortlichen tatsächlich auf den Wikipedia-Text über Neubrandenburg gestützt, in dem zeitgeistkonform steht: »Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde die Stadt Opfer von Zerstörung und Brandschatzung, welche die historische Altstadt zu mehr als 80 Prozent vernichteten. Ein Schicksal, wie es fast allen Städten im östlichen Mecklenburg und der angrenzenden Uckermark widerfuhr.«
Nun, in Prenzlau wurde ein Emissär der Roten Armee aus dem Hinterhalt erschossen, beauftragt, mit Offizieren der Wehrmacht die Kapitulation der Stadt zu besiegeln. Daraufhin setzten Rotarmisten den Ort in Brand. Alliierte Bomber verwüsteten zuvor neben Stralsund, Anklam, Demmin auch die »Vier-Tore-Stadt«. Rüstungsproduktion, Militäranlagen befanden sich dort (Fliegerhorst Trollenhagen, Torpedoversuchsanstalt auf dem Tollensesee). Unweit befand sich das KZ Ravensbrück samt dessen Außenlagern bei Neubrandenburg. Die Altstadt wurde tatsächlich bis Mai ’45 fast völlig zerstört. Dann kamen »die Russen«.
Die Welt kennt Verdis »Messa da Requiem« und bestaunt das Werk, wo immer es gespielt wird. Seit seiner Mailänder Premiere in San Marco 1874 hinterlässt es tiefe Wirkungen im Musikbewusstsein der Epochen. 2013 kam es mit dem riesenhaften Chor der Mailänder Scala, ersten italienischen Solistinnen und Solisten, geleitet von Daniel Barenboim, in der Philharmonie Berlin. Eine unglaubliche Aufführung. Dies der Maßstab, an dem sich auch kleinere Klangkörper orientieren. Zudem gibt es diverse hochstehende CD- und DVD-Aufnahmen.
Die Wiedergabe in der Konzertkirche gelang vorzüglich. Von den Solisten ragten der mexikanische Tenor Francisco Almanza und Karen Fergurson heraus, die ihre große sopraneske Rolle im teils dissonant geführten Schlussteil »Libera me« wunderbar ausführte. Eine Totenmesse, für einen verehrten Dichter komponiert, die, hebt nur der erste Takt an, alle Lebenden meint, alle, die der Unbill durch Chauvinismus, Raub, Vernichtung, Kriege aller Art und sonstige Verbrechen überdrüssig sind. Und selbst die meint, die als kämpfende Soldaten sinnlos ins Gras beißen mussten, und noch jene nicht ausspart, welche Untaten angeführt und darüber Reue gezeigt haben.
Verdis große Messe verbildlicht Menschentum in höchstem Grade. Der große Italiener spricht darin das Todesproblem von der Warte derer an, die fähig sind zu trauern, mitzufühlen, zu vergeben. Das »Dies irae« ist ein gewaltiger Aufschrei, hinter dessen Wucht vielleicht nur die gleichnamige Sequenz in Bernd Alois Zimmermanns »Requiem« nicht zurückbleibt. Bei Verdi ist das »Dies irae« dreifach eingebaut, zuletzt zwischen den Teilen »Confutatis«, in dem Chor und Bass-Stimme die nachfolgenden Schreie vorbereiten, und dem polyphonen »Lacrymosa«, das Mozart Epochen vorher so wunderbar vertont hat.
Stefan Malzew, Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmonie, dirigierte die Aufführung in der dann doch voll besetzten Konzertkirche - ihre Akustik ist eine Ohrenweide - hochkonzentriert. Alle Übergänge, das Vielerlei der Balancen zwischen Chor, Solisten, Orchester, das Ausmusizieren der Tutti-Extreme, der Kombination von Ferntrompeten und Chor, der Schwälle der Blechbläser, die es reichlich gibt, bis hin zu den kühnen Fermaten und häufigen Schlussbildungen im ppp klappten vorzüglich. Glanzleistung auch dank der Chöre, 80 Köpfe, zusammengesetzt aus zwei Vereinigungen, die in Szczecin ansässig sind. Ein großer Abend.
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