Sich verkleiden, um zu demaskieren

«Wir sind Günter Wallraff» am Staatstheater Hannover

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Wallraff dringt in die Situation, über die er schreiben möchte, ein, unterwirft sich ihr und teilt seine Erfahrungen und Ermittlungen in einer Sprache ohne Überhöhungen mit«, schrieb Heinrich Böll über den bekannten Enthüllungsjournalisten. Mit dem Eindringen in Institutionen und Firmen hat er bundesweit einige Missstände aufgedeckt. Allein seine drei Bücher über die Undercover-Erlebnisse in der »Bild«-Redaktion in Hannover mit den Titeln »Aufmacher«, »Zeugen der Anklage« und »Bildstörung« haben 1,5 Millionen Menschen gelesen. Wallraffs Enthüllungen haben ihm Verleumdungen und Anfeindungen gebracht. Der BND ermittelte gegen ihn, weil einige seiner Beiträge in Zeitungen des sogenannten Ostblocks nachgedruckt worden sind, und Bundeswehrärzte bescheinigten ihm, eine »abnorme Persönlichkeit« und für den Dienst an der Waffe untauglich zu sein.

Nicht zuletzt, weil Wallraff seine Erfahrungen in der Bezirksredaktion der Bildzeitung in Hannover gemacht hat, griff das dortige Staatstheater auf seine Reportagen zurück. Den jungen Regisseur Alexander Eisenstein interessierte in dem Zusammenhang das Problem der »Manipulation der öffentlichen Meinung«, und wie Wallraff sein Prinzip »verkleiden, um zu demaskieren« in Szene gesetzt hat. Er suchte dabei nach dem szenischen Potenzial, das in diesen Texten unter Verschluss gehalten ist. An diesem zweistündigen Abend steht die Bildzeitung in vielen Zusammenhängen und Brechungen im Zentrum. Opfer der Meinungsmanipulation kommen zu Wort, einzelne Figuren von Wallraffs Reportagen wie der Militärpfarrer, für den es kein Verbot des Tötens geben darf, wenn es gegen die Linken und die Russen geht, erscheinen in leibhaftiger Gestalt.

In einem Fernsehinterview erzählt der Autor, wie er in die Redaktion eingedrungen ist; und in einer Theaterszene beginnt er, am Sinn seiner Aktionen zu zweifeln und stellt entsetzt fest, dass er in Auftreten und Erscheinung denen zu gleichen beginnt, die er bloßstellen wollte. Wir erleben die Produktion eines Lügenartikels auf Grundlage gefälschter Interviews und staunen über das großspurige Selbstverständnis der Zeitungsmacher, eine heilige Pflicht zur Abwehr des Kommunismus zu erfüllen.

Überlieferte Grundsituationen der dramatischen Weltliteratur und Vorgänge des aktuellen Weltgeschehens werden als Folie genutzt. Im Stile eines siegessicheren amerikanischen Wahlkämpfers besteigt im Konfettiregen der Chefredakteur ein übermannshohes Podest. Einer Abschiedsrede des antiken Theaters gleichen die letzten Worte des Mannes, der seine Frau durch Selbstmord verloren hat. An die berühmte Schauspielerszene in Brechts »Arturo Ui« werden wir erinnert, wenn ein pseudointellektueller Spinner zusammen mit einem selbstgefälligen Regisseur eine »Wutrede« einstudiert. Als Fremdkörper wirkt eine Szene, die im Ibsen-Stil von einem Reeder erzählt, der einen Arbeitervertreter dazu bringt, seine Klassengenossen zu verraten und der seinerseits von einem Zeugen seiner früheren Verfehlungen erpresst wird. Die Auflösung bringt schließlich eine Szene in der Redaktion, innerhalb der alle an der Theaterszene beteiligten kritischen Redakteure ihre Masken abwerfen und gestehen, dass sie in ihre Rollen geschlüpft waren, um die Verbrechen des Kapitals bloßzustellen und damit eine »Gegenöffentlichkeit« herzustellen. In der anschließenden Debatte begreifen sie, dass solche Aktionen von durchschlagender Wirkungslosigkeit sind, weil die Mächtigen unbeirrt ihre »Erzählung« von den Weltzusammenhängen weiter durchziehen werden.

So ertüftelt und schwer verständlich solche Einfälle sind, andere Szenen sind von schlüssiger Logik und szenischer Dichte. Dem Chefredakteur Diekmann erscheint in Gestalt einer kritischen Nahostreporterin, die eben noch den Abdruck eines kritischen Artikels gefordert hat, der Ex-Bundespräsident Christian Wulf und wehrt sich mit Drohungen gegen die Veröffentlichung eines Beitrags, der ihn, Wulf, belastet. Künstlerisch ist das glänzend gelungen. Wenn die Darstellerin Beatrice Frey in der Wulf-Rolle immer atemloser und ängstlicher wird, weil sie an dem aasigen Grinsen des Chefredakteurs abprallt, das hat eine schauspielerische Raffinesse, die an diesem Abend nicht immer gegeben ist.

Henning Hartmann beispielsweise findet als der Pfarrer, der das Töten nicht mehr ablehnt, zu wenig differenzierte Mittel und erschöpft sich im hysterischen Schrei. Wolf List und Günter Harder liefern in ihrem fiktiven Gespräch über die Unterschiede subversiven Schreibens im Osten und Westen als Wallraff und Biermann lediglich theoretische Texte ab, ohne ihnen szenisches Leben einhauchen zu können. Auch wenn diese Inszenierung zuweilen kopflastig daherkommt, so beweist sie doch, dass es für die Theater in Wallraffs Beiträgen einiges zu entdecken gibt.

Nächste Vorstellung: 29. Mai

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