Werbung

Kein Pop um jeden Preis

Jamie xx

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 3 Min.

Sechs Jahre ist das jetzt her. Kurz darauf war man in keiner Bar mehr sicher vor diesem Musik gewordenen Mischgefühl aus verführerischer Verlorenheit und diffuser Sehnsucht. Vor Eiskristallen, die einem direkt ins Herz wachsen. Oliver Sim und Romy Madly Croft sangen mit schwachem Puls über Nuancen der Liebe, während Jamie Smith, der Kopf der Londoner Gruppe, sehr spartanische Beats in den weiten Raum stellte und subsonische Bässe diskret brummen ließ.

Die Gruppe heißt The xx. Ihr Debüt »xx« machte die damals 19-jährigen Schulfreunde auf einen Schlag berühmt. Vor allem der schüchterne Eigenbrötler Jamie Smith konnte sich bald nicht mehr retten vor lukrativen Aufträgen. Adele, Radiohead, Drake - alle wollten Produktionen aus seiner Hand. Nicht immer gestaltete sich die Zusammenarbeit einfach. Wie auch, wenn eine Hundertschaft von Musikangestellten ein eitel-gewichtiges Wörtchen mitreden will, wie bei Alicia Keys?

Von einem spannenden Kontrast getragen ist Smith' sympathisch unfertig wirkende Neuinterpretation von Gil Scott-Herons Comeback-Album »I'm New Here«. Die von Crack-Konsum und Alter gezeichnete Soul-Stimme Herons bewegt sich auf »We're New Here« von 2011 wie ein staunender Fremdkörper inmitten der flirrenden, blubbernden Synthiesounds, sitzt seltsam schräg auf Freestyle- und Dubstep-Beats.

Diese Form eines starken, produktiven Kontrasts gibt es auf Jamie xx’ erstem Solo-Longplayer so zwar nicht. Gleichwohl ist »In Colour«, an dem Jamie xx die letzten sechs Jahre mit vielen Unterbrechungen saß, ein gutes Beispiel für Ecken und Kanten, für kleine interne Widersprüche, Idiosynkrasien und Überraschungen. Wie die dominante Steeldrum, die dem basssatten »Obvs« karibisches Flair verleiht und damit eine gewisse Leichtigkeit inmitten melancholisch-mächtiger Schwere.

Schwer zu sagen, was genau »In Colour« ist, ein zeitgemäßes elektronisches Popalbum ist es jedenfalls auch - mit aufs große Gefühlsganze abzielenden Dance-Popsongs mit hymnenartiger Dramaturgie. Dreimal singen die Ex-Kollegen von The xx, Romy Madly Croft und Oliver Sim. Und dann und wann übertreiben sie es fast mit der gefühligen Tiefe nahe dem emotionalen Kitsch.

Smith, der von sich sagt, »wenn ich nicht kreativ sein kann, werde ich depressiv«, hat kein Popalbum um jeden Preis gemacht, erst recht keines um den Preis seiner besonderen Vorlieben. Was das heißt, hört man auf den herrlich bedrohlichen Endzeittracks »Gosh« und »Hold Tight«: Harsche Breakbeats und eine maschinenwesenhafte Atmosphäre erinnern an Zeiten, als Drum ’n’ Bass, made in Großbritannien, gar nicht dunkeldüster genug sein konnte. Womit auch gesagt ist, dass Jamie Smith für »In Colour« das Soundrad für die Zukunft der Gegenwart nicht unbedingt neu erfunden hat. Aber wer tut das derzeit schon?

Jamie xx: »In Colour« (Young Turks / Beggars Group / Indigo)

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!