Die Wüste lebt, dank Hitler!
Der Kritiker und Essayist Eike Geisel, der den Mythos vom »guten Deutschen« bekämpfte, wäre heute 70 Jahre alt geworden
In Wien hat neulich ein Mieter während des kürzlich in der Stadt veranstalteten »Eurovision Song Contest« die Flagge eines der daran teilnehmenden Staaten in seinem Fenster angebracht. Keine allzu irritierende Sache, sollte man im Grunde meinen. In Deutschland, so weiß man, hängt noch aus dem nichtigsten Anlass - meist braucht es einen solchen nicht einmal - eine zwanzig Meter lange, neonbeleuchtete schwarzrotgoldene Wimpelgirlande von jedem zweiten Balkon. Doch es handelte sich bei der eingangs erwähnten Flagge um die israelische. Kurze Zeit später erhielt der Mieter ein Schreiben der Hausverwaltung, in dem Folgendes zu lesen war: »Von einem Bewohner der Nachbarliegenschaft wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass Sie im Fenster ein großflächiges Symbol einer für ihn sehr schmerzhaften und traurigen Vergangenheit angebracht haben. Da er sich selbst mit dieser versöhnt hat, es für ihn jedoch sehr schwer ist, wenn er täglich daran erinnert wird, hat er den Wunsch an uns herangetragen, ob wir Sie bitten würden, dieses Symbol so anzubringen, dass es von Außen und damit für ihn nicht sichtbar ist.«
Fragen wir uns also: Für wen genau könnte der Anblick der israelischen Fahne die unschöne Erinnerung an eine »sehr schmerzhafte und traurige Vergangenheit« sein? Es ist nicht auszuschließen, dass hier einer nicht »täglich daran erinnert« werden will, dass es ihm und seinesgleichen früher leider nicht gelungen ist, sämtliche Juden zu ermorden. Doch immerhin gibt es auch Positives: Erfreulicherweise ist es dem verärgerten Nachbarn - nach einem gewiss »schmerzhaften« Prozess der Vergangenheitsbewältigung, so ist anzunehmen - wenigstens gelungen, sich im Nachhinein mit der äußerst bitteren Erfahrung zu »versöhnen«, dass es seinerzeit nicht geklappt hat mit der vollständigen Ausrottung des Judentums.
Dass der 1997 im Alter von 52 Jahren verstorbene Soziologe und Autor Eike Geisel von dieser Alltagsposse nicht mehr erfahren durfte, stimmt traurig. Er hätte sie gewiss schön kommentiert. Denn sie bietet genau den Stoff, den es braucht, um zu exemplifizieren, wie beharrlich, ja wie leidenschaftlich nach wie vor das Umlügen der deutschen Geschichte betrieben wird. Als 1993 Spielbergs Film »Schindlers Liste« in die deutschen Kinos kam und sich in der Folge nicht wenige ehemalige Nationalsozialisten als »Judenretter« aufspielten und sich die Oskar Schindlers zu Dutzenden bei den Medien meldeten, kommentierte Geisel: »Wenn jeder dieser Retter einen Baum in Israel pflanzen wird, dann ist der Negev bald grün. Dann heißt es dank Hitler: Die Wüste lebt.« Die Rüge des »Tagesspiegels«, dass Spielberg mit seinem Kitschmärchen über den Holocaust Geld verdiene, konterte er mit dem Hinweis, die Zeitung vermisse bei dem Filmregisseur anscheinend »jene idealistische Begeisterung, mit der die Deutschen seinerzeit die Juden umsonst umgebracht hatten«.
In seinen gesellschaftskritischen Betrachtungen, in denen die deutsche Geschichts- und Erinnerungspolitik, der es bis heute hauptsächlich um »Deutschlands Ansehen in der Welt« bzw. »Reputationskosmetik« geht, und die Ursachen des seit ’89 wachsenden Nationalismus und Antisemitismus analysiert werden, hat Geisel vor allem diese deutsche Manie immer wieder zu seinem Thema gemacht: den beständigen Versuch, die Grenze zwischen Opfern und Tätern des Nationalsozialismus zu verwischen. Zur Einweihung der staatlichen »Kranzabwurfstelle« »Neue Wache« stellte er 1993 fest, dort würden nun »familiäre Bande geknüpft zwischen dem Kriegsopfer Roland Freisler, dem bei einem Bombenangriff umgekommenen Henker des Volksgerichtshofs, und der in Bergen-Belsen elend verreckten Anne Frank«. Ein anderer Kritiker des Denkmals hatte seinerzeit den trefflichen Vorschlag gemacht, statt der Inschrift »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« könne dort auch stehen: »Allen, denen es irgendwann mal richtig schlecht ging«. An Geisels Werk, überwiegend Vorträge, Essays, Zeitungsartikel, lässt sich zeigen, wie wenig die Deutschen, die »das erste Opfer Hitlers« (Geisel) gewesen sein wollen, bis heute von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit begriffen haben und warum die unermüdlichen Schlussstrichzieher und -setzer, spätestens seit der sogenannten Wiedervereinigung so heftig eine »neue Normalität beschwören« (Geisel), die nicht eintreten will.
Das jahrzehntelange Verdrängen und Leugnen des Holocaust unter den Deutschen der Nachkriegszeit wurde spätestens in den 90er Jahren ersetzt durch ein obsessiv betriebenes verlogenes, offiziöses Erinnern, das nicht minder geprägt ist von dem nationalen Verlangen, die Erinnerung an die NS-Verbrechen loszuwerden. Juden, so stellte Geisel fest, würden dabei nur »für die Imagepflege Deutschlands« gebraucht, als »moralische Pausenclowns«, die an Gedenktagen »ins Rampenlicht geschleift« werden und »für die kleine Betroffenheit zwischendurch sorgen«.
Im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Achtundsechzigern, die sich um eines warmen Hinterns und eines gut ausgestatteten Bankkontos willen irgendwann unversehens in einer Redaktionsstube des Axel-Springer-Verlags oder als verteidigungspolitische Beraterin der Bundesregierung wiederfanden und derart den »Beweis für die These antraten, dass das Einverständnis mit dieser Gesellschaft nur um den Preis der eigenen vorzeitigen Verblödung möglich ist«, mochte Geisel sich »nicht damit abfinden, dass mit der Karriere der ehemaligen Genossen in der Bundesrepublik der freiwillige Verzicht auf Kritik an ihr einherging«, schreibt der Verleger Klaus Bittermann. Drucken habe man Geisels Texte, die oft ebenso scharf wie brillant formuliert waren, meist lieber nicht gewollt. Was unter anderem auch daran gelegen haben mag, dass der Polemiker etwa den einen oder anderen durch den Polit- und Kulturbetrieb tingelnden Ex-Linken als »freischaffenden Einkaufsberater für die seelische Innenausstattung der Nation« enttarnte oder das Endergebnis der Gründung der grünen Partei bekanntgab: »Ein paar hundert Kriegsgewinnler erwarben die Pensionsberechtigung.«
Die bürgerlichen Medien, so Bittermann, »wollten sich keinen Ärger einhandeln, Redakteure der ›taz‹ bekamen ›Bauchschmerzen‹ von seinen Artikeln«. In den 90er Jahren veröffentlichte Geisel regelmäßig Beiträge in »Konkret«, bis 1997 auch in der Tageszeitung »junge Welt«, bevor diese einen Großteil der Redakteure rauswarf, ihre Blattlinie radikal veränderte und sich dem Nationalbolschewismus zuwandte.
Geisel war linker Kritiker, das hieß vor allem, nichts zu beschönigen, schon gar nicht die Jämmerlichkeit derer, die sich als Linke gerierten oder verkleideten. »Die Outings von ehemaligen Stasimitarbeitern fand er nicht weniger erbärmlich als die ›Schwerter-zu-Pflugscharen‹-Pazifisten, die sich als Fundamentalopposition stilisierten, lächerlich.« (Bittermann) Über die bis heute gern als »anderes Deutschland« und »Widerständler« glorifizierten Stauffenberg-Attentäter, deren Antisemitismus und Nazi-Gesinnung gern unter den Teppich gekehrt werden, schrieb Geisel: »Sie hatten ein reines Gewissen, weil sie es nie benutzt hatten.«
Geisel war das weihevolle offiziöse Brimborium zuwider, das bis heute veranstaltet wird und bei dem deutsche Bundespräsidenten regelmäßig mit einer Miene, als lutschten sie gerade ihr eigenes Erbrochenes, vor NS-Gedenkstätten und Mahnmalen herumstehen und dabei den immergleichen auswendig gelernten Sermon vor sich hinrhabarbern. Denn er hatte einen genauen Blick für die Doppelmoral, die Lüge, falsche Vergleiche, obszöne Inszenierungen. Anders als viele andere besaß er ein Sensorium dafür, welche Absicht hinter der Perfidie steckt, »Dresden« und »Hiroshima« im selben Standardtrauerredensatz unterzubringen wie »Auschwitz«, oder welche Absicht waltet, wenn die DDR als eine Art Verlängerung der NS-Diktatur beschrieben wird. Ihm blieb nicht verborgen, dass zur selben Zeit, zu der in Deutschland irgendein obligatorisches staatsoffizielles Gedenken an tote Juden seinen Lauf nahm, im selben Land ehemalige NS-Marinerichter wie der Ex-Ministerpräsident Hans Filbinger gemeinsam mit anderen Naziveteranen fröhlich Stiftungen etwa »zur Förderung christlichen, vaterländischen und humanistischen Gedankengutes« gründeten und ehemalige SS-Offiziere es sich in ihren Seniorenresidenzen bei Kaffee und Kuchen gemütlich machten. Solcherlei Heuchelei ist ja kein Einzelfall.
Der 6. Dezember 1992 etwa, als nach heftigen ausländerfeindlichen Ausschreitungen, Anschlägen und Morden die erste sogenannte Lichterkette in Deutschland stattfand, mit der man nicht nur »ein Zeichen setzen«, sondern sich auch ein gutes Gewissen verschaffen wollte, und bei der Hunderttausende sich drolligerweise einander die Banalität »versicherten, man dürfe andere Menschen nicht einfach totschlagen« (Geisel), war derselbe Tag, an dem sich im Bundestag Union, FDP und SPD auf den sogenannten Asylkompromiss, die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl, einigten. Geisel beobachtete damals, »dass sich die andächtig wiederholte Phrase von der Menschenwürde sehr wohl verträgt mit der Absicht, Menschen, die nichts als jenes armselige Gut vorzuweisen haben, an der Grenze abzuweisen oder sie deportationsfähig zu machen«.
So geht das bis heute: dem Ausland die Komödie vom Land der edlen Seelen vorspielen, während hinter den Kulissen der Ausbruch der Barbarei nur mühsam zu unterdrücken ist. Diese »unmittelbare Nähe von moralischen Glühwürmchen und kaltblütiger Exekutive« hat Geisel wahrgenommen, immer wieder. Was er dazu gesagt hätte, dass in Deutschland unerwünschte, weil bestenfalls als unnütz betrachtete Menschen heute nicht mehr nur kaserniert oder gewaltsam außer Landes gebracht, sondern außerhalb der deutschen Grenzen militärisch bekämpft werden, kann man vielleicht erahnen.
Der Herausgeber seiner Schriften, Klaus Bittermann, schreibt in seinem Vorwort zu dem soeben erschienenen Band, in dem er die wichtigsten Aufsätze Geisels versammelt hat: »Er liegt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Friedenau in unmittelbarer Nähe von Marlene Dietrich, die er bewunderte und die bis über ihren Tod hinaus in Deutschland als Verräterin galt. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.« Heute wäre Eike Geisel 70 Jahre alt geworden.
Eike Geisel: Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Mit einem Nachwort von Klaus Bittermann. Edition Tiamat, brosch., 464 Seiten, 24 €.
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