Werbung

Nichts Neues in der Welt der Tanten

Ralf Pleger über Tschaikowskys Homosexualität und den Hass auf Schwule

  • Lesedauer: 5 Min.
An diesem Mittwoch sendet arte »Die Akte Tschaikowsky – Bekenntnisse eines Komponisten«. Der Dokumentarfilm von Ralf Pleger rückt explizit die Homosexualität des russischen Komponisten in den Mittelpunkt – wohl eine bewusste Entscheidung des Senders angesichts russischer Homophobie. Mit dem preisgekrönten Regisseur sprach Kevin Clarke.

nd: Sie sind Spezialist für innovative Komponistendokus. Nach Wagner und Beethoven ist nun Tschaikowsky dran. Am 7. Mai wurde sein 175. Geburtstag gefeiert. War das der Anlass für Ihren neuen Film?
Pleger: Ein Jubiläum ist immer hilfreich, um die vielen Ideen, die man im Kopf hat, zu sortieren und Prioritäten zu setzen. Tschaikowskys Aktualität ist im Moment stärker als bei anderen seiner Generation: Ein schwuler russischer Komponist war und ist ein Tabuthema in Russland. Das gilt fürs 19. Jahrhundert, es gilt auch für die Sowjetzeit. In den frühen 1990er Jahren gab’s eine kurze Phase, während der das Tabu aufgeweicht wurde und für westliche Forscher die Archive geöffnet wurden. Danach war wieder Schluss.

Wer war der Forscher aus dem Westen, der erstmals in die Archive schauen durfte?
Der US-Amerikaner Alexander Poznansky. Er durfte die Briefe Tschaikowskys in Klin einsehen, analysieren und für seine Biografie »The Quest of the Inner Man« (1992) verwenden. Poznansky stellte fest, dass Tschaikowskys jüngerer Bruder Modest nach dem Tod des Komponisten viele Passagen in den Briefen geschwärzt hat. Er wollte die Briefe nicht vernichten, hat aber alles, was in irgendeiner Form ein schlechtes Licht auf Tschaikowsky werfen könnte, gestrichen.

Hat Poznansky herausgefunden, was unter den geschwärzten Stellen steht?
Vieles war nur halbherzig übermalt und konnte leicht entziffert werden, dazu gehören die vielen Passagen, in denen Tschaikowsky mit seiner Sexualität ringt und beschreibt, was er mit Strichern und Liebhabern quer durch Europa erlebt, in Berlin, Paris, London oder Florenz. Angesichts der Quellenlage, die seit Jahren bekannt ist, ist es umso irritierender, dass man in Russland jetzt sagt, man wolle davon nichts wissen. Wladimir Putin erklärte erst kürzlich: »Ja, wir wissen, Tschaikowsky war schwul, aber wir lieben ihn bestimmt nicht deswegen.« Eine russische Regierungsstelle, die einen Film finanzieren soll, den ein russischer Regisseur drehen will, legt sogar vorab fest, dass das Thema Homosexualität nicht vorkommen darf. Das ist nachgerade absurd.

Sie sind in der DDR aufgewachsen. Wie wurde da mit dem schwulen Starkomponisten umgegangen?
Ich habe mich schon im Kindesalter für Tschaikowskys Musik interessiert, als Sexualität für mich noch keine Rolle spielte. Das war in den 1970ern. Allerdings erinnere ich mich auch daran, dass das Thema Homosexualität als Gerücht in der Luft lag: »Der soll ja schwul gewesen sein.« Dieser Satz klingt mir noch im Ohr, aber ich weiß nicht, woher er kam.

Was erfährt man denn in den Briefen übers Innenleben des Komponisten?
Der Wendepunkt für Tschaikowskys Umgang mit der eigenen Homosexualität war, als er merkt, dass er berühmt wird. Das ist wie bei Pop- oder Filmstars heute. Er verliert die Unbefangenheit, die er bis dahin hatte. In einem frühen Brief an Modest heißt es ganz locker: »Hallo, hier ist deine große Schwester, die Petrolina! Nein, in der Welt der Tanten gibt es nichts Neues. Die Konkubinen meines Harems gammeln herum, aber du weißt ja, die sind für mich so unverzichtbar geworden wie Klopapier.« Dann kommt der Moment, wo seine Karriere abhebt, wo er auf gute Presse angewiesen ist, wo er beäugt wird von der Öffentlichkeit. Und da sagt er sich: Das kann so nicht weitergehen, denn es wird als Perversion wahrgenommen und ist somit geschäftsschädigend. Er dreht das Ruder rum und bekämpft erst sich selbst, dann die Homosexualität des jüngeren Bruders. Es ist ja interessant, dass die Brüder beide schwul sind und sich voreinander geoutet haben, wodurch sie ein besonders enges Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Anschließend versucht Tschaikowsky, sich und seinen jüngeren Bruder umzupolen. Er baut eine Fassade auf, für die er andere Leute ins Unglück zieht, zuallererst seine Ehefrau Antonina Miljukowa.

Aus Frustration hat sie mit anderen Männern geschlafen und hatte drei uneheliche Kinder …
Das Schicksal Antoninas wird im Film nur kurz angedeutet: Sie wird in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Modest sorgt dafür, dass sie in dieser Anstalt bleibt, obwohl sie wieder gesundgeschrieben werden könnte. Modest hatte Angst, dass Antonina draußen schlimme Dinge über Tschaikowsky erzählen könnte. Da sieht man, wie eine fatale Entscheidung aufgrund von irrsinnigem gesellschaftlichem Druck Personen ins Verderben zieht, die damit eigentlich nichts zu tun haben müssten.

Und die Kinder?
Tschaikowsky hat sich von ihnen total distanziert und wollte von ihnen nichts wissen. Er fand es unangenehm, dass Antonina eines nach ihm benannt hat.

In Ihrem Film kommen nur Originalzitate von Tschaikowsky vor - in einem völlig heutigen visuellen Ambiente.
Die Geschichte, die Tschaikowsky erlebt hat, ist eine, die einen sehr reinzieht. Selbst wenn man’s nur als bloße Beschreibung lesen würde, würde es einen mitnehmen. Wenn man es dann auch noch in seinen eigenen Worten erzählt bekommt, dann ist man ihm noch ein gutes Stück näher. Diese Nähe herzustellen, war mir wichtig. Ein Mensch, den man als Helden der Musikgeschichte kennt, vertraut einem plötzlich intimste Dinge an. Das ist schon eine besondere Situation. Wir benutzen dazu heutige Bilder, um die Aktualität des Themas zu betonen. Dazu gehören auch erschütternde Dokumente aus dem heutigen Russland: Filmclips, die zeigen, wie schwule Jugendliche von Homohassern zusammengeschlagen, erniedrigt und gefoltert werden. Diese Clips sind von den Hassern selbst auf YouTube gestellt worden, um alle Welt an ihren grauenvollen »Säuberungsaktionen« teilhaben zu lassen. Es ist die härteste Form des gesellschaftlichen Drucks, der man ausgesetzt sein kann: physische Gewalt. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir umso wichtiger, die Geschichte des russischen Volkshelden Tschaikowsky als schwule Geschichte zu erzählen.

Arte, 22.05 Uhr

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.