Dauergrinsen macht krank
Studie: Hohe stressbedingte Gesundheitsrisiken in Callcentern
»Man spricht von einer Halbwertzeit eines Agenten von ungefähr drei Jahren«, weiß Brühmann und findet, dass die Bezeichnung »ein wenig zynisch« sei. Verantwortlich sei der Leistungsdruck und die verordnete gute Laune, die man als »Call-Center Agent« (CSA) am Telefon ständig an den Tag legen muss. So baue sich Streß auf, der auf Dauer krank mache.
Die »Agenten« unterliegen ständiger Kontrolle, es müssen oft mehrere Quoten erfüllt werden, erzählt Markus Lawrenz, der sieben Jahre Telefonistik hinter sich hat. Beispielhaft nennt er ein Projekt, bei dem für einen Mobilfunkanbieter neue Vertragskunden gewonnen werden sollten. Es sei überprüft worden, wie viele Vertragsabschlüsse pro Stunde zu Stande gekommen sind, wie viele Telefonnummern angewählt wurden, und bei Nichtabschluss, wie viele Nummern mit dem Vermerk »kein Interesse« verbraucht waren oder aber auf »Wiedervorlage« gestellt wurden. Am Ende des Tages sei den Mitarbeitern dann nicht gesagt worden »gut, dass du drei von vier Quoten geschafft hast«, sondern gefragt worden, wieso die eine nicht erreicht wurde.
Ein anderer Grund für den hohen Stresspegel im Callcenter sei die oft mangelhafte Schulung, meint Brühmann. So hätten die CSA in einer Schulung für die Technikhotline eines DSL-Anbieters lediglich »Grundsätzliches zu DSL« und »die Geschichte des Internet« vermittelt bekommen. »Dann rufen Kunden an, die möchten ihr Problem gelöst haben, und der Agent ist dazu nicht in der Lage.« Es habe Situationen gegeben, in denen Brühmann Kollegen »weinend habe rausrennen sehen«, weil Kunden aggressiv auf das Nichtwissen reagiert hätten. Er betont jedoch, dass es auch bessere Schulungen gegeben habe.
Die Techniker Krankenkasse (TK) hat in einer Studie bereits 2004 herausgefunden, dass Beschäftigte in Callcentern deutlich länger krankgeschrieben sind als in anderen Branchen. Zudem würden Psyhopharmaka, Medikamente für Magen-Darm-Beschwerden und Antidepressiva deutlich öfter verschrieben. Dass sich die Zustände seither verbessert haben glaubt Michaela Speldrich, Pressereferentin bei der TK, nicht. »Der Bereich boomt, und ich bezweifle, dass die Bedingungen besser werden, wenn immer mehr Leute diese Arbeit machen.«
Es werde aber eine Menge unternommen, beschwichtigt Manfred Stockmann, Präsident des Call Center Forum e.V. Der 1996 gegründete Branchenverband hat einen Arbeitskreis Gesundheit eingerichtet. Es gebe mittlerweile Unternehmen, die eingesehen hätten, dass Vorsorge nicht bloß »nett« sei, sondern auch eine betriebswirtschaftliche Komponente. Krank machendes Stresspotenzial sieht er aber auch in anderen Branchen, beispielsweise im Hotelgewerbe. »Bei der Frage, was man tun kann, rätseln auch die Wissenschaftler.« In einigen Unternehmen seien inzwischen Psychologen tätig. Die Entwicklung stecke indes noch in den Kinderschuhen, meint Stockmann.
Der Psychologe Burkhart Barth wird deutlicher. Für ihn sind es die »schweren Arbeitsbedingungen mit Zeittaktvorgaben und großen psychophysischen Stressbedingungen« in Callcentern, die Menschen krank machen. Eine mögliche Lösung sieht er in der konsequenten Umsetzung der geltenden Arbeitsschutzgesetze.
Charmeoffensive
Zum zweiten Mal fanden diese Woche die »Berlin-Brandenburger Callcentertage« statt. Mehrere Berliner Callcenter öffneten ihre Türen für die Presse und Jobsuchende. Die Branche will weg vom Sweat-Shop-Image, unterstreicht hohe Wachstumsraten (laut Veranstalter 30 Prozent in 2005) und ist stolz auf die neuen Ausbildungsgänge »Servicekraft« bzw. »Kaufmann für Dialogmarketing«. Die Techniker-Krankenkasse macht allerdings erhebliche Berufsrisiken aus.
VS
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