Jahrmarkt des Abstrusen

Festival »Infektion!«: Georg Schütky inszenierte Karlheinz Stockhausens »Originale« in der Werkstatt der Staatsoper Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Da stolpern die paar erwartungsvollen Leute, die eine Karte ergattern konnten, in den Saal der Staatsopern-Werkstatt, und die Action ist mitten im Gange. So geordnetes wie heilloses Durcheinander, die Schräglage feiert Urständ. Komisch kostümierte und frisierte Menschen schreiten, als kennten sie einander nicht. Einzelne tragen Vogelkäfige, rollen Kostümständer, schwenken Spotlight, halten den Neonstab hoch in die Luft, drehen etwas und sich selbst, werfen, rufen, trollen sich, singen rund und eckig, brüllen, lächeln, grinsen, scheinen stumm, scheintot, grämlich, im Gesicht so hohl wie fahl. Flüstern sie auch? Der eine hält etwas hoch, der andere etwas runter. Einige räuspern und räkeln sich wie girrende, humpelnde Täubchen.

Der Raum ist hochgerüstet mit Maschinerie. Auf der Empore sind mehrere Schall- und Computeranlagen installiert, unten desgleichen. Videokameras, immer an, gehören zum ständigen Begleitinventar. Licht fällt starr wie mobil, Computer plus dazugehörige Gerätschaften summen. Technizierte Kunst fehlt nicht. Elektronische Klänge lassen über Lautsprecherkomplexe die Wände derart erbeben, als bahnte sich das Grollen der Katastrophe an. Dazu Schlagzeug auf Metall, Fell und Holz wie Klavierklänge härtester Sorte. An einer Wand in Kastenform gar ein Fotolabor, es arbeitet in Nicht-Technicolor.

Personnage noch und noch. An die 25 Akteure agieren auf dem Kampfplatz, einer Bühne, die an ihrem Scheitel einem Schiffskörper gleicht und auf fast den ganzen Saal ausgreift. Spiegelflächen an der Hauptseite vergrößern den Raumeindruck. Das Schiff hat Aufbauten: Postiert sind mehrere aufgebockte Platten mit Computern, ein metallenes Türmchen ragt wie die erhöhten Sitze der Kampfrichter auf Tennisplätzen empor.

Nun Schluss mit dem paradoxen Trubel, bedeutete die Regie, worauf das 90-Minuten-Spektakel beginnt. Diverse Typen treiben nunmehr ihre freundlichen Übel und harschen Spielchen, als wären sie aufgelesen von jener Straße, die hinaufführt zum Jahrmarkt, auf dem nichts, das eine Bedeutung hätte, käuflich ist und auf dem alles feilzubieten möglich ist, das dem Nichtalltäglichen der Alltagswelt, dem Abstrusen, dem Nonsens zugehörig scheint. Solche Unbestimmtheit findet ihr Äquivalent in einem sehr bestimmten Geschehen. Dies der Angelpunkt, um den herum die sehr verdienstvolle Inszenierung von Georg Schütky sich dreht.

»Originale« von Karlheinz Stockhausen hat viel Ärger hinter sich. 1961 in Köln uraufgeführt, sollte das Musiktheater nach den ersten Vorstellungen abgesetzt werden. Dem damaligen Kölner Kulturdezernenten galt es als kulturell nicht wertvoll. Darauf nahm der Komponist privat die Initiative in die Hand und finanzierte den Rest des Reigens von insgesamt zwölf Vorstellungen selbst. Die Stadtväter - bis heute irrig ihr Glaube, die Verfügenden, gar die Besitzer der Staatszuschüsse zu sein - wollten dies komische Musiktheater den Leuten nicht zumuten. Die aber hatten das Stück mehrheitlich angenommen.

Zentral darin ist Stockhausens autonome Komposition »Kontakte« für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug aus dem selben Jahr. Sie dominiert in »Originale« an mehreren Stellen und dämmt die Szenerie ein oder besser: verdünnt und übertönt sie. Diese Musik gehört - nach traditionellem Maßstab - substanziell zum Besten des Ganzen. Dennoch: Die Idee, zugleich originale wie ungemein abgefahrene Typen traumwandlerisch in den Raum zu stellen und ihren Schabernack treiben zu lassen, ist bestechend. Da waltet die Kultur von Dada, da triumphiert die heilige Welt der Technik, Ausstellungswert Nummer Eins des modernen Kapitalismus, in der Schräglage. Alle Lobpreisungen der Weltordner werfen im Zerrspiegel des Absurden ihr eigentümlich Licht und rutschen in die Niederungen der Straße.

Wo habt ihr, die ihr da lenkt und spielt, die mit dem Dirndl aufgegabelt? Wo den Schalk, den Leierkastenmann, die Garderobiere, die Straßensänger, die Videoleute, die Sängerin? Wo die mit sich und ihrem Stoffwesen identische, unerhört agile Puppenspielerin und den elegant schreitenden Maler und Charmeur mit dem spitzen Kinn, der Kostüme und Perücken wie Perlen der Könige hineinträgt? Wo die dauernd beschäftigten Beleuchter und Tontechniker, die Schar der wandelnden Computeristinnen und Computeristen? Wo jenen nicht minder häufig die Positionen wechselnden Regisseur, der ein kompliziert gesetztes Quintett aus vier Mimen und einer Sängerin präzise dirigiert? Und wo kommt der französische Schwarze her mit dem Anzug aus Scheuerlappenstoff? Woher das geherzte Kind, das anfangs jedem Einzelnen brav ergeben sein muss? Und woher endlich das Roboterkind »2 grace«, das rhythmisch trampelt, und alle schauen schweigend zu?

»Originale« setzt zudem starke aktuelle Signale. Der Einbau hätte Stockhausen vielleicht nicht gefallen. Ein halbes Dutzend Straßensänger formiert sich zwischendrin, präsentierend junge Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Einige tragen Tücher, die auf soziale Bewegungen verweisen. Es sind Flüchtlinge. Country ist ihr Lied. Die Mikros wandern von Hand zu Hand. Leidenschaft spannt die Sehnen aller. Singend kämpfen sie. Eine große Szene.

Nächste Vorstellung am 20. Juni

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