Freiheit, Gleichheit, Panzerspur

Mario Holetzeck inszenierte Heiner Müllers »Wolokolamsker Chaussee (I-V)«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.
Die fünf kurzen, wie gemeißelt wirkenden Texte, die Heiner Müller in den achtziger Jahren schrieb, scheinen tot. Aber nichts ist vergessen. Die Aufführung am Cottbuser Staatstheater indes konnte nicht überzeugen.

Alles weg? Schnee von gestern? Die Probleme abgegessen? Das fragt diese Inszenierung von Regisseur Mario Holetzeck und Juan Léon (Bühne). »Wolokolamsker Chaussee (I-V)«. Panzerspuren führen durch die Text-Abfolge. Teil V, »Der Findling«, endet mit dem Verrat des treuen Genossen und Ziehvaters an seinem Sohn, der Flugblätter verteilt hatte wider die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Hinter dem Dialog der beiden murmeln die Weiber auf Bänken mit dem Rücken zum Publikum in wechselnden Lautstärken immer wieder »... vergessen, vergessen. vergessen ...«. Nichts ist vergessen.

Heiner Müller schrieb die fünf kurzen, wie gemeißelt erscheinenden Texte in den achtziger Jahren. Nun, sein Leib ist längst unter Gras. Die Stücke, die er schrieb, scheinen tot. In der DDR gehörte Mut dazu, sie aufzuführen, da sie neuralgische Themen jenseits der amtlichen Diskurse poetisierten. B. K. Tragelehn, Benno Besson, Fritz Marquardt, Bernd Weißig, Christoph Schroth, Müller selber und andere machten das. Der Westen hatte den Autor längst aufs Schild gehoben, propagandistisch wie praktisch. Nicht nur linke Bühnen brachten ihn (Müller war bisweilen entsetzt, wie sehr er im Westen missverstanden wurde). Komponisten und Musiker kümmerten sich. Heiner Goebbels machte später ein Hörstück aus der kompletten »Wolokolamsker Chaussee«, ein sehr brauchbares Modell, mit den Texten umzugehen. Heute kehrt sich fast niemand mehr an dergleichen Material. Theater hat andere Sorgen. Sorgen mit sich selbst, Sorgen mit jener uferlosen Freiheit, welche unter der Botmäßigkeit eines alle Rücksichten aufkündigenden Kapitalismus zur Schrulle verkommen ist. Freiheit, was und wer immer sie meint, muss ihr eigenes Joch erst wieder abschütteln. Dies ist ein relevanter Punkt bei Heiner Müller und keinesfalls abgegessen. Er betrifft noch die DDR-Probleme, die »Wolokolamsker Chaussee« aufwirft.

Mario Holetzeck - sein erfrischend gemachter »Woyzeck« nach Büchner ist nicht vergessen - entschied sich, hauptsächlich mit Chören und Aufteilungen derselben zu arbeiten. Seine agile, spielfreudige, rhythmisch begabte Truppe besteht aus acht Köpfen, je vier Frauen und Männern. Allenthalben die »Russische Eröffnung« (I) nach Alexander Beck wendet das chorische Prinzip strikt an. »Die Mutter der Ordnung ist die Ordnungswidrigkeit.«

Die Angst geht um in der Roten Armee, bevor die erste Schlacht vor Moskau beginnt. Unerfahrenheit und Desertion schüren sie noch. Rhythmisierte Tuscheleien in den Ecken, rasche Wechsel der Parts, der Stimmen. Überläufertum auch in den eigenen Reihen. Der Kommandeur, selbstredend die schärfste Stimme im Chor, testet den Mut seiner Leute und simuliert den Angriff des Feindes, indem er Salven in den See adressiert. Das Schlagzeug macht das.

Doch das reicht nicht. Da sich einer in die Hand geschossen hat, soll er an die Wand gestellt werden. Lang die Phase der Überlegung, ob es richtig ist, den Feigling zu erschießen, wo er doch geschworen hat, weiter mitzukämpfen. Der Schuss knallt. Wieder Schlagzeug. Müller rekurriert hier auf die Situation in der »Maßnahme« von Brecht/Eisler, wo die Untergrundkämpfer, unmittelbar mit dem Feind konfrontiert, den jungen Genossen nicht in die Kalkgrube werfen, bevor der Ernst der Sache klar wird: »... wir hatten zehn Minuten Zeit und dachten nach vor den Gewehrläufen!«

Teil III, »Das Duell« nach Anna Seghers gleichnamiger Erzählung, führt in die Streikbewegung des 17. Juni 1953 in Berlin. Unterm DDR-Emblem Getümmel, Parolen. Schmährufe, Fahnenschwenken. Aus dem Orchestergraben, besetzt mit vier Musikern, tönen Takte der DDR-Hymne, richtige wie ziemlich ungelenk verfremdete. Auch der Renner auf der Hitliste denunziatorischen Materials, »Die Partei, die Partei, die hat immer recht«, blendet kurz auf. Hier lässt Holetzeck kein Klischee aus, das nicht schon x-hunderte Male verwendet worden wäre. Mit der jungen DDR kommen neue Konfrontationen. Nichts von vor ’45 ist vergessen. Männer erkennen sich wieder in harten Zeiten und stellen den je anderen zur Rede. Den Ausgang des Duells entscheiden letztlich die einrückenden Panzer der Roten Armee. Grau und porös nun das Emblem.

Eine Anti-Kafka-Commedia ist der Teil, den Müller »Kentauren« nennt. Darin geht es heiß statt kalt und clownesk statt angstvoll zu, besetzt mit sieben albernen Uniformierten und einem schwarzen Engel auf dem Podest. Alle tragen rote Pappnasen und haben die gleichen grauen Hüte auf. Auf ein Zeichen hin kleben sie plötzlich an ihren Bürosesseln und führen lauthals ihren Veitstanz auf. Alles gut gemeint. Aber lachen machte es nicht, eher befremdete das Geschrei. Wie das Ganze der schlecht besuchten und kaum mit Beifall bedachten Aufführung nicht vom Hocker riss. Ein Teil der Musik wirkte allzu plakativ und ungekonnt. Lustig der Müller-O-Ton-Einschub »Ich habe die Nacht geträumt, einen Albtraum. Es passierte nichts.«

Dieser Satz des Dramatikers hätte über dem Ganzen stehen können, denn besagte Panzerspur führt bis tief in die Jetztwelt hinein: »Ich glaube, dass das Ende, die Implosion des osteuropäischen sozialistischen Experiments, eine wirkliche Weltkrise aufgedeckt hat, die immer da war, aber zugedeckt und verdrängt mit der Orientierung auf die Ost-West-Konfrontation. Darauf kann sich auf keiner Seite mehr irgendjemand rausreden. Jetzt gibt es eine Nord-Süd-Konfrontation, aber auch das ist schon zu einfach. Es brechen überall die Konflikte auf, die vom Beton des Kalten Krieges und des militärischen Gleichgewichts zugedeckt worden sind. Das wird jetzt zunehmend eine Welt, die nicht mehr regierbar ist. Die Zukunft ist der allgemeine Bürgerkrieg.«

Nächste Vorstellung am 28. Juni

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