Im Cabriolet durch den Kaukasus
Wie die junge Sowjetunion um Touristen aus dem Westen warb, um an Devisen für den Aufbau zu gelangen
Strandleben auf der Krim, ein Abenteuer entlang der Georgischen Heerstraße und eine extravagante Reise mit dem Zug über einen Viadukt in Armenien. Das sowjetische Reisebüro Intourist lancierte Anfang der 1930er Jahre eine große Werbekampagne, um westliche Touristen in die Heimat der Revolution zu locken. Überaus fähige Künstler arbeiteten daran mit und entwarfen eine Reihe äußerst schöner Plakate. Ihre Inspiration fanden sie in den exotischsten Destinationen der Sowjetunion.
Im November 2014 hatte Christie's eine seltene Sammlung solcher Intourist-Plakate unter dem Hammer. Dem englischen Auktionshaus zufolge sind sie durch die deutlich vom Art déco inspirierte Grafik und den faszinierenden historischen Zusammenhang sowohl für russische als auch für europäische Sammler interessant. Die Auktion in London ist nur einer von vielen Ausdrücken der wachsenden Aufmerksamkeit für die Plakate - nicht nur unter Kunsthändlern. Mehrere Bücher und Ausstellungen tragen zu dieser Tendenz bei.
Die Londoner Online-Plakatgalerie »AntikBar« spezialisiert sich auf diese Art grafischen Designs. Ihr Besitzer Kirill Kalinin verkauft Nachdrucke sowie eigene Publikationen. Das Deutsche Historische Museum in Berlin stellte 2013 mehrere dieser Plakate unter dem Titel »Rund um die Welt« vor. Als die »Grad Galerie für Russische Kunst und Design« im selben Jahr in London öffnete, geschah dies anhand einer Ausstellung über Intourist-Plakate und die Art-déco-Künstler, die sie konzipiert hatten. In der sowjetischen Kunstgeschichte bilden sie immer noch einen weißen Fleck.
Mehrere renommierte Wissenschaftler hatten zu dem Katalog der Grad-Ausstellung »See USSR - Intourist posters and the marketing of the Soviet Union« beigetragen, der den ersten großen Versuch darstellt, das Rätsel der Plakate zu lösen. Deren Motive enthalten einige faszinierende und auf den ersten Blick geheimnisvolle Widersprüche, die erklärt werden wollen: Warum etwa statten sowjetische Künstler wie Aleksandr Schitomirskij und Sergej Igumnov Reisende auf den Plakaten mit bürgerlichen Statussymbolen wie offene Autos und frei im Wind flatternden Schals aus, wenn sie durch die herrliche Landschaft Georgiens und Armeniens sausen? Warum verkörpern sie in ihren zwischen 1935 und 1939 entstandenen Werken auf diese Weise den Individualismus und die persönliche Freiheit - Werte, die in der Regel nicht als erstes mit der sozialistischen Sowjetunion verbunden werden, sondern mit dem kapitalistischen Westen? Warum benutzen sie überhaupt Art déco als grafischen Ausdruck, wenn dieser Stil doch vor allem mit etwas Luxuriösem assoziiert wird - so wie es in den in den 1920er und 1930er Jahren innerhalb der intellektuellen Oberschicht der USA und Frankreich der Fall war?
Auch die Intourist-Künstlerin Marija Nesterova-Bersina bricht mit den traditionellen westlichen Stereotypen der sowjetischen Propaganda, so etwa auf ihrem ikonischen Plakat »USSR Health Resorts«, das die Historiker aus das Grad-Projekt nicht genau datieren können. Es zeigt eine junge Frau umgeben von exotischer Vegetation und einem goldschimmernden Strand im Hintergrund. Entspannt genießt sie das Leben unter einem Sonnenschirm in einem Urlaubsziel der Sowjetunion - wahrscheinlich der Krim oder Abchasien. Das Plakat vermittelt Entspannung, Hedonismus und Sorglosigkeit als begehrenswert, die Freiheit, seinen Gelüsten nachzugehen. Von Verantwortung der Gesellschaft gegenüber fehlt hingegen jede Spur. Schon die Tatsache, dass die Frau alleine im Vordergrund sitzt, vermittelt Individualismus als Wert - ihre sozialistischen Mitbürger befinden sich entfernt in den Weiten des Horizonts. Vielleicht lässt sich sogar Genusssucht oder eine unverantwortliche und egoistische Lebensweise aus dem Plakat herauslesen. In jedem Fall scheint es weit von dem entfernt, was wir normalerweise unter sowjetischer Propaganda verstehen.
Die Intourist-Kampagne bildet einen krassen Gegensatz zu anderen Plakaten der UdSSR, die an die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Jene vermitteln oft das genaue Gegenteil, indem ihr Fokus auf harter Arbeit der Kolchos-Bauern, auf dem Kollektiv, der Industrie, den Fabriken oder Schornsteinen liegt. Die beiden Arten von Plakaten veranschaulichen auf faszinierende Weise den Kontrast zwischen der internen und der externen Darstellung der Sowjetunion.
»Die 1930er Jahre waren eine Zeit, in der die Sowjetunion eine umfassende und schnelle Industrialisierung erlebte«, erklärt Galeriebetreiber Kirill Kalinin, ein Experte für die Intourist-Plakate. »Die Regierung erkannte einen Bedarf an Hartwährung, um die Ausrüstung und Technologie der Fabriken zu finanzieren. Wohlhabende ausländische Touristen anzuziehen, war ein Weg, um an Geld zu kommen, damit das Land aufgebaut werden konnte. Und Intourist war Teil dieser Strategie.«
Als das Reisebüro 1929 gegründet wurde, ergänzt Kalinin, ritt die UdSSR auf einer Welle des Selbstvertrauens. Europa und die Vereinigten Staaten indessen waren aufgrund der Wirtschaftskrise, die Millionen von Menschen in die Armut trieb, geschwächt. Viele im Westen hätten daraus geschlossen, dass etwas an der kapitalistischen Art und Weise, die Gesellschaft zu organisieren, grundlegend falsch war. »Sie fingen an, das ambitionierte sowjetische Experiment positiver zu betrachten, das eine Alternative zu dem sozialen Chaos bildete«, vermutet Kalinin. Aus diesem Interesse sei die Reiselust privilegierter Westler erwachsen, die einmal etwas völlig anderes erleben wollten. Hinzu komme, dass die Sowjetunion in den Jahren unmittelbar vor 1929 durch die Neue Ökonomische Politik (NÖP) geprägt wurde, eine im Vergleich zur strikten Planwirtschaft liberalere Politik, die einen gewissen Wohlstand in den größeren Städten und eine Art neue Bürgerschaft erzeugte. »Von da an ist der Abstand zum ›dekadenten‹ Art déco nicht so groß, wie man vielleicht denken würde«, sagt Kirill Kalinin.
Der Galerist hält es für möglich, dass die Intourist-Künstler von den zeitgenössischen Neureichen in Moskau und Leningrad und von deren Lebensweise inspiriert wurden. Zwar waren der Stalinismus und die staatlich propagierte Ästhetik des sozialistischen Realismus im Kommen. Gleichzeitig, so Kalinin, sei aber das Erbe der 1920er Jahre noch zu spüren gewesen, »die unter Intellektuellen durch eine gewisse Ausgelassenheit bei gleichzeitiger Begeisterung für die Revolution und für künstlerische Experimente gekennzeichnet waren«. Als die NÖP abgeschafft wurde und die Kontrolle der Kunst - wie auch der übrigen Gesellschaft - sich in den 1930er Jahren verschärfte, war es von Bedeutung, dass sich Intourist mit den Plakaten ausschließlich an ein ausländisches Publikum wandte. Nur unter dieser Prämisse sei es dem Touristbüro möglich gewesen, die UdSSR so kosmopolitisch und aufgeschlossen gegenüber kapitalistischen Lebensweisen zu zeigen, wie es innerhalb der Grenzen des Landes nicht erlaubt gewesen wäre.
Kalinin vermutet, dass die Künstler sich anfangs selbst überwinden mussten, um zu der kommerziellen Botschaft der Plakate beizutragen. Die Tatsache, dass sie bürgerliche Marketing- und Verkaufstechniken verwandten, um das erste sozialistische Land der Welt in den Westen zu verkaufen, dürfte mit ihrem Selbstverständnis und jenen Grundsätzen kollidiert sein, auf denen die Sowjetunion basierte. Dennoch entwickelten die Plakatmacher bald eine Bildsprache, die sich leicht für westliche Betrachter entziffern ließ und ohne Probleme wiederzuerkennen war.
Die sowjetischen Künstler »studierten sorgfältig die Plakate von ähnlichen touristischen Kampagnen in Europa, um ins Schwarze zu treffen«, sagt Kalinin. »Oft übernahmen oder entwickelten sie Komposition und Bildelemente weiter. Es war vielmehr Adaption des Art déco als Nachahmung.« Die Objekte, Figuren und das stromlinienförmige Design der Plakate drücken Geschwindigkeit und Können aus. Sie bezeugen, was die moderne Technologie an Möglichkeiten bietet, um abenteuerlich und gleichzeitig bequem zu reisen. Die Cabriolets, die als Motive der Intourist-Kampagne wiederkehren, können leicht als ein Tribut an das legendäre Bild »Tamara im grünen Bugatti« der Art-déco-Königin Tamara de Lempickas aus dem Jahr 1925 gedeutet werden.
Aber hat diese Werbekampagne auch funktioniert? Haben westliche Touristen tatsächlich zunehmend Lust verspürt, die UdSSR zu erleben? Von Intourist sind niemals offizielle Daten veröffentlicht worden. Aus der Arbeit »The Business of Selling the Soviet Union: Intourist and the Wooing of the American Travellers, 1929-1939« der Historikerin Samantha Kravitz geht aber hervor, dass der Sowjetstaat 1934 etwa 50 000 ausländische Reisende begrüßen konnte. Das war mehr als eine Verdreifachung im Vergleich zu der bisher höchsten Anzahl im Jahr 1930, als etwa 15 000 das erste sozialistische Land auf der Welt bereist hatten.
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