Jenseits von Sigmund Gottlieb
Freitags Woche
Viele merken es womöglich kaum, doch tief im Innern wird er uns bald fehlen: Claus Weselsky. Was haben seine neun Streiks zum abendlichen Infotainment beigetragen, wie hat der zitternde Schnauzbart des Vorsitzenden der Lokführergewerkschaft die Medienöffentlichkeit erregt. Und nun? Vorbei! Die Streithälse sind sich einig und nirgends scheint ein Nachrichtenberserker in Sicht, der Weselsky Lücke füllt. Oder? Doch: Sigmund Gottlieb. Mit hasserfülltem Gefasel von erlesener Stupidität gibt der BR-Chefredakteur seiner rechtspopulistischen Klientel eine Stimme und hetzt über faule, fiese, dreiste Griechen, dass selbst »Bild« vor Neid erblasst. Doch Gottlieb begnügt sich nicht mit Hetze; er packt sie auch noch in lausigen Journalismus, wie sein unterirdisches Brennpunkt-Interview mit Wolfgang Schäuble am vergangenen Montag zeigte. Das einzige, was da saß, war Gottliebs eitle Dirigentenwelle.
Die jedoch ein paar graue Haare mehr gekriegt haben dürfte, als publik wurde: Olympia findet ab 2018 nicht öffentlich-rechtlich statt. Das IOC hat die TV-Rechte bis 2024 an den US-Konzern Discovery Communications verkauft und somit ein Zeichen gesetzt: Für Kommerzialisierung, gegen Information. Auf Abspielkanälen wie Eurosport muss sich das IOC ja nicht mehr mit Kritik an Naturzerstörung, Korruption oder Doping plagen, wie es Programme von ARD über BBC bis ZDF bei allem Jubelpersertum wenigstens zur Nacht hin versuchen.
Schöne heile Goldsilberbronzewelt also im Sinne Putins, der die Säbel erst richtig rasseln ließ, als die Kameras sein subtropisches Winterparadies Sotschi wieder verlassen hatten. Man kann das am heutigen Montag um 23 Uhr begutachten, wenn ARD-Korrespondentin Golineh Atalai eineinhalb Jahre Ukraine-Krieg zur »Story im Ersten« bündelt. Wer die globale Dauerkrise lieber realitätsgetreu als real zu sich nimmt, wird hingegen von »Homeland« versorgt. Die wohl beste Politserie geht Freitag mit Dreierfolgen auf Kabel 1 in die vierte Staffel und knüpft am Handlungsort Pakistan wieder an das grandiose Niveau der ersten zwei Abschnitte an.
Überhaupt, die Realität: Sie bleibt das Gebot der Woche. Rein sachlich, wenn das ZDF am Dienstag (23 Uhr) im Rahmen von »37°« die vielfältige Welt der Sekten, Gurus und Verführer ausleuchtet. Oder tags zuvor, wenn die ARD (22 Uhr) mal heimlich, mal offen die Folterfabriken der »Fleisch-Mafia« inspiziert. Donnerstag dann, wenn 3sat um 20.15 Uhr die »Generation Weichei« erkundet - Kinder im liebevollen Würgegriff von Helikopter-Mum und Karriereplaner-Dad.
Doch auch spielerisch gilt die Realität als Vorbild sehenswerter Filme: Mittwoch im Ersten zum Beispiel mit Lars Eidinger als junger Vater, der im glaubhaften Familiendrama »Was bleibt« erfährt, dass seine depressive Mutter (Corinna Harfouch) die Medikamente abgesetzt hat, was nur scheinbar banal klingt. Das Gegenteil von banal ist am Donnerstag um 22.45 Uhr an gleicher Stelle »Lincoln«, Hollywoods bildersattes Historiengemälde mit Daniel Day-Lewis als amerikanischer Bürgerkriegspräsident, wofür er zu Recht seinen dritten Oscar erhielt.
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