Die Kraft aus dem Nichts
Wissenschaftler werfen einen kritischen Blick auf die Ansprüche und Methoden der sogenannten Alternativmedizin. Von Martin Koch
Ayurveda, Aromatherapie, Quantenheilung, Homöopathie, Clustermedizin, Kinesiologie, anthroposophische Heilkunde, Bachblütentherapie. All diese alternativmedizinischen Behandlungsverfahren, deren Reihe sich beliebig fortsetzen ließe, haben eines gemein: Sie werden von der wissenschaftsbasierten Medizin, die oft abschätzig als »Schulmedizin« bezeichnet wird, nicht anerkannt. Ansonsten jedoch gibt es zwischen ihnen wenig Verbindendes. Im Gegenteil: Die in der Alternativmedizin vertretenen Konzepte beruhen nicht selten auf sich ausschließenden Grundannahmen, die wiederum im Widerspruch stehen zu den vielfach bestätigten Theorien und Gesetzen der Physik und Chemie.
Das freilich hindert Millionen von Bundesbürgern nicht daran, alternativmedizinische Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie geben dafür jedes Jahr rund neun Milliarden Euro aus. Fünf Milliarden zahlen die Patienten selbst, vier Milliarden steuern die Krankenkassen bei.
Eine der wichtigsten Ursachen dieser Entwicklung ist zweifellos die Tatsache, dass viele Patienten bei alternativen Heilern ein höheres Maß an Zuwendung erfahren als im herkömmlichen Gesundheitsbetrieb. Hier werden die psychosozialen Aspekte der Medizin aus Zeit- und Kostengründen oft stark vernachlässigt. Dabei weiß jeder Arzt, dass sich seine Tätigkeit nicht darin erschöpft, die im Studium erworbenen Kenntnisse über die Funktionen und Fehlfunktionen des menschlichen Körpers praktisch umzusetzen. »Immer kommt es im Umgang mit kranken Menschen auch darauf an, Zuversicht und Kompetenz auszustrahlen«, schreiben der Biologe Dittmar Graf und der Politikwissenschaftler Christoph Lam- mers in dem von ihnen herausgegebenen Buch »Anders heilen?« und fügen hinzu: »Die Erwartungshaltung, die beim Patienten durch das Auftreten des Arztes ausgelöst wird, kann zu einem entscheidenden Element bei der Genesung werden.«
Stichwort Placeboeffekt. Häufig stößt allein die Versicherung eines Arztes, ein spezielles (Schein-)Medikament helfe gegen eine Krankheit, bei vielen Patienten einen Selbstheilungsprozess an. Und dabei handelt es sich keineswegs um eine Heilung zweiter Klasse, sondern um ein gutes Beispiel für das, was man ideologiefrei als sanfte Therapie bezeichnen könnte. Allerdings sträuben sich die meisten Heiler gegen das Argument, ihre Behandlungserfolge seien das Resultat eines Placeboeffekts. Sie bestehen vielmehr auf der objektiven Wirkung ihrer jeweiligen Mittel und Methoden.
Und hier liegt das eigentliche Problem der »Alternativmedizin«. Schon diese Wortschöpfung suggeriert, dass die wissenschaftsbasierte Medizin unvollständig sei und daher einer Ergänzung bedürfe. Doch zu welchem Zweck? Häufig ist von geheimnisvollen Schwingungen und Energieflüssen die Rede, die mittels »sanfter« Heilverfahren im Körper neu austariert werden müssten. Bei der beliebtesten alternativen Heilmethode hierzulande, der Homöopathie, werden Präparate verordnet, die so stark verdünnt sind, dass sie keinerlei Wirkstoff mehr enthalten.
Dennoch kommt es bei ihrer Anwendung zu erstaunlichen Erfolgen. Graf und Lammers führen dies (neben dem Placeboeffekt) auf mehrere Ursachen zurück. Erstens: Viele Krankheiten heilen nach einiger Zeit von allein. Das gilt mitunter sogar für schwere Fälle, die gemeinhin als unheilbar gelten. Zweitens: Krankheiten zeigen oft einen zyklischen Verlauf. Es kann daher leicht geschehen, dass man eine vorübergehende Linderung der Symptome als Heilung missversteht. Drittens: Neben der alternativen wird gelegentlich auch eine konventionelle Behandlung durchgeführt, der Heilerfolg aber ausschließlich der alternativen Methode zugeschrieben.
In kontrollierten wissenschaftlichen Untersuchungen hingegen schneiden alternative Heilmittel in der Regel nicht besser ab als Placebos. Zwar kann man immer wieder lesen, dass in einer Studie endlich der Beweis für die Wirksamkeit dieser oder jener Alternativtherapie erbracht worden sei. Eine kritische Überprüfung der Daten fördert jedoch zumeist methodische Unzulänglichkeiten zutage. Manche Studien werden daraufhin still und leise zurückgezogen. Auch hier macht die Homöopathie keine Ausnahme. Edzard Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin an der Universität Exeter, fand mit Hilfe einer Online-Datenbank heraus, dass an der Berliner Charité in den letzten Jahren die meisten Studien zur Wirksamkeit der Homöopathie veröffentlicht wurden. Als Leiterin fungierte mehrheitlich die Sozialmedizinerin Claudia Witt, die von 2008 bis 2013 eine Stiftungsprofessur der Karl und Veronica Carstens-Stiftung zur Erforschung der Alternativmedizin inne hatte. Die Berliner Gruppe referierte die Ergebnisse von elf klinischen Studien, in denen Ernst zahlreiche methodische Mängel entdeckte. Ein Mangel besteht nach seiner Auffassung in der nur spärlichen Beschreibung der durchgeführten Behandlungen. Dadurch bleibe unklar, ob neben homöopathischen auch konventionelle Therapien angewandt worden seien. Darüber hinaus sprächen die Forscher selbst dann von einer Bestätigung der Homöopathie, wenn das Studiendesign dies gar nicht hergebe. In einigen Publikationen will Ernst überdies eine Art Voreingenommenheit festgestellt haben. Etwa wenn es dort heißt: »Unsere Studie war geplant, um die homöopathische Behandlung zu evaluieren.« Mancher mag hier vielleicht einen Einfluss der Carstens-Stiftung vermuten, die die meisten Studien gesponsert hat und deren Nähe zur Homöopathie kein Geheimnis ist. Ernst begnügt sich damit, auf Letzteres zumindest hinzuweisen.
Andere Autoren des Buches werfen einen kritischen Blick auf die anthroposophische Medizin, die Argumente der Impfgegner sowie die alternative Tierheilkunde. In seinem Beitrag hierzu betont der Münchner Psychologe Colin Goldner, dass es streng genommen gar keine Alternativmedizin geben könne. Es gebe nur wirksame und unwirksame Medizin. Das heißt: Sobald die Wirkung eines alternativen Heilverfahrens nach objektiven Maßstäben belegt werden kann, ist dieses per definitionem Teil der wissenschaftlichen Medizin. Alles andere sollte man besser als Paramedizin bezeichnen, meint der Philosoph Martin Mahner, der eine Parawissenschaft allgemein definiert als »einen außerhalb der Wissenschaft - aber nicht außerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs - angesiedelten Erkenntnisbereich, dessen Theorie und Praxis weitgehend auf illusionärem Denken beruht«. Alternative Heiler dürften hier energisch widersprechen. Denn obwohl sie einerseits die Wissenschaft als kalt und seelenlos beschreiben, hoffen sie andererseits darauf, von dieser letztendlich bestätigt zu werden.
Wer die alternative Heilkunde kritisiere, sollte indes nicht vergessen, dass es auch in der »Schulmedizin« häufig um ökonomische Interessen gehe, meint Goldner. Kritik sei auch hier notwendig. Denn viele Menschen suchten gerade deshalb Hilfe bei alternativen Heilern, »weil sie dem herrschenden Gesundheitswesen, dem Diktat von Mediziner- und Pharmalobby, zutiefst misstrauen«. Bei leichten Beschwerden mag das durchaus angehen. Bei schwereren Erkrankungen hingegen wäre es fährlässig, auf das Knowhow der wissenschaftlichen Medizin zu verzichten. Man denke nur an den 2011 verstorbenen Apple-Mitbegründer Steve Jobs, bei dem einige Jahre zuvor ein Bauchspeicheldrüsentumor diagnostiziert worden war. Zunächst versuchte er es mit einer alternativen Behandlung. Doch diese blieb nicht nur erfolglos, die dadurch verlorene Zeit kostete Jobs vermutlich das Leben.
Dittmar Graf/ Christoph Lammers (Hrsg.): Anders heilen? Wo die Alternativmedizin irrt. Alibri Verlag, 178 S., 14 € .
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