Delikater Eingriff ins Gehirn

In den USA steht die sogenannte Lustpille für Frauen kurz vor der Zulassung

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Dank Viagra lassen sich Potenzprobleme bei Männern heute therapieren. Für Frauen gibt es bisher kein Medikament zur Behandlung sexueller Luststörungen. Eine neue Pille soll hier Abhilfe schaffen.

Über die längste Zeit der Geschichte diente der weibliche Körper als Objekt zur Befriedigung männlicher Bedürfnisse. Allein die Vorstellung, dass eine Frau ebenfalls sinnliche Lust empfinden oder sexuelle Wünsche haben könnte, irritierte die meisten Männer - in der Bundesrepublik noch bis weit in die 1960er Jahre hinein. Der bekannte Sexualreformer Oswalt Kolle erzählte, um die damalige Situation zu illustrieren, einmal folgenden Witz: Ein Mann schläft mit seiner Frau und ist heftig bei der Sache. Plötzlich hält er inne und fragt: »Entschuldigung Liebling, habe ich dir weh getan?« Darauf sie: »Nein, wieso denn?« Er: »Ich hatte das Gefühl, dass du dich bewegt hast.«

Heute sind viele, wenn nicht die meisten Frauen in Deutschland sexuell aktiv und bekennen sich offen zu ihren erotischen Neigungen. Für andere hingegen besteht hier nach wie vor ein Problem. So geht aus einer neueren Untersuchung hervor, dass fast jede vierte Frau, die aufgrund sexueller Funktionsstörungen einen Gynäkologen aufsucht, kein richtiges Verlangen nach Sex hat. Schon seit längerer Zeit wird deshalb nach einem Wirkstoff geforscht, der eine Steigerung der weiblichen Libido bewirkt, ohne gesundheitsschädigend zu sein.

Beim Mann heißt das Wundermittel gegen Potenzprobleme bekanntlich Viagra. Der darin enthaltene Wirkstoff Sildenafil wurde Anfang der 1990er Jahre durch Zufall entdeckt. Ein Forscherteam des US-Pharmakonzerns Pfizer suchte damals nach einem neuen Medikament zur Behandlung von Herzkrankheiten. Große Hoffnung setzte man dabei in das Mittel mit der Nummer UK-92480. Es blockierte nachweislich das Enzym PDE-5 und sorgte so für eine Erweiterung der Blutgefäße. Allerdings brachte es bei Herzbeschwerden nicht den gewünschten Erfolg. Deshalb stellte Pfizer die Tests ein. Einige männliche Versuchsteilnehmer bedauerten dies und gestanden schließlich, dass ihnen UK-92480 (Sildenafil) eine lang anhaltende Erektion beschert habe.

Rasch war hierfür eine Erklärung gefunden: Das Enzym PDE-5 drosselt bei nachlassender sexueller Erregung normalerweise den Blutfluss in den Schwellkörper, so dass der Penis erschlafft. Weil Sildenafil dieses Enzym hemmt, bleibt die Erektion länger bestehen. Erfolgsraten von bis zu 90 Prozent sowie moderate Nebenwirkungen trugen dazu bei, dass die seit 1998 auf Rezept erhältliche Potenzpille Viagra weltweite Popularität erlangte.

In der Folge gab es sogar Versuche, Viagra bei Frauen zu testen. Doch diese verliefen allesamt ergebnislos. Was nicht weiter verwundert, denn sexuelle Dysfunktionen gehen bei Frauen gewöhnlich auf andere Ursachen zurück als bei Männern. Männer, die Viagra schlucken, empfinden vorab sexuelle Lust, bei Frauen soll dieses Verlangen erst erzeugt werden. Eine Lustpille für Frauen müsste folglich auf anderen Wirkmechanismen beruhen als Viagra.

Erneut wies der Zufall der Forschung den Weg. Bei der Suche nach einem rasch wirkenden Antidepressivum - gemeinhin setzt die Wirkung solcher Medikamente erst nach mehreren Wochen ein - wurde in einem Labor des deutschen Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim in den 1990 Jahren ein Arzneistoff namens Flibanserin entwickelt, der in den Botenstoffwechsel des Gehirns eingreift.

In klinischen Studien zur Behandlung von Depressionen enttäuschte das Mittel zwar. Aber es steigerte das sexuelle Lustempfinden von weiblichen Versuchspersonen, von denen man glaubte, dass sie überdies unter HSDD litten. Dieses Kürzel steht für »Hypoactive Sexual Desire Disorder« und beschreibt ein vermindertes sexuelles Begehren, das durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn ausgelöst wird. Tatsächlich senkt Flibanserin den Spiegel des lusthemmenden Botenstoffs Serotonin und steigert die Konzentration der lustfördernden Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. War das der Grund für das plötzliche sexuelle Verlangen von HSDD-Patientinnen? Da es Boehringer nicht gelang, dies signifikant zu belegen, lehnte die US-Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) die Zulassung von Flibanserin 2010 ab. Daraufhin verkaufte Boehringer die Rechte an dem Mittel an das eigens dafür gegründete Unternehmen Sprout Pharmaceuticals in Raleigh (US-Bundesstaat North Carolina).

2013 scheiterte auch Sprout an der FDA, denn in Studien mit Flibanserin klagten rund 15 Prozent der Probandinnen über Nebenwirkungen: Sie waren oft benommen, litten unter Angstzuständen sowie den Folgen eines extrem niedrigen Blutdrucks. Nun jedoch hat Sprout eine neue Chance erhalten. Mit 18 zu 6 Stimmen wurde der FDA von einer Beraterkommission empfohlen, die pinkfarbenen Flibanserin-Pillen in den USA zuzulassen. Anlass hierfür waren drei kontrollierte Studien, bei denen Frauen vor dem Schlafengehen 100 mg Flibanserin einnahmen. Ergebnis: Statt von zuvor zwei bis drei lustvollen sexuellen Erlebnissen pro Monat berichteten sie nun von vier solchen Erlebnissen.

Angesichts einer derart mäßigen Steigerung sowie der nicht geringen Nebenwirkungen von Flibanserin ist verständlich, warum die empfohlene Einführung der Lustpille auf viel Kritik stößt. Manche halten Flibanserin für ein reines Lifestyleprodukt beziehungsweise ein Mittel zur Behandlung einer Störung, die es gar nicht gibt. »Das sexuelle Begehren von Menschen ist sehr unterschiedlich ausgeprägt und variiert überdies im Laufe des Lebens. Darin liegt nichts Krankhaftes«, sagt Adriane Fugh-Berman von der Georgetown University in Washington, D.C. Dass mutmaßlich rund 40 Prozent der US-Frauen sexuell lustlos seien, hält sie für eine von der Pharmaindustrie in die Welt gesetzte Legende.

Eine andere Auffassung vertritt die Organisation »Even the Score«, zu der eine Reihe von Frauenverbänden gehört. Sie wirbt in der Öffentlichkeit für eine Zulassung der Lustpille für Frauen, als deren Markenname »Addyi« vorgesehen ist. Immerhin habe die FDA, um sexuelle Funktionsstörungen bei Männern zu kurieren, bereits mehrere Medikamente freigegeben. Es sei daher ein Gebot der Gleichberechtigung, endlich auch ein Mittel für Frauen zuzulassen. Einen Schönheitsfehler allerdings hat die ganze Aktion: »Even the Score« wird von der Herstellerfirma Sprout gesponsert. Die New Yorker Psychiaterin Leonore Tiefer vermutet deshalb hinter all dem eine Marketingtaktik, die sich feministisch tarne. In Wirklichkeit verhindere nicht eine gestörte Gehirnchemie bei vielen Frauen die sexuelle Erfüllung, sondern eine gestörte Partnerbeziehung.

Noch weiß niemand, ob Flibanserin in den USA eine Zulassung erhalten wird. Denn die FDA ist an das Votum einer externen Beraterkommission nicht gebunden und hat sich in der Vergangenheit mitunter gegen deren Empfehlung ausgesprochen. Kritiker der Lustpille hoffen darauf auch diesmal. Im August soll die Entscheidung fallen.

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