Wo der Gegner steht
Der Gläubiger-Deal hat eine Mehrheit im griechischen Parlament gefunden - auch mit SYRIZA-Stimmen. Es ist Ausdruck einer Niederlage. Aber der Prozess ist noch nicht zu Ende. Weitermachen. Ein Plädoyer von Thomas Seibert
Das griechische Parlament hat die »Einigung von Brüssel« gebilligt, mit Mehrheit auch der Abgeordnet*innen von SYRIZA. Das ist die Anerkennung der Niederlage, die dem griechischen Aufbruch von der deutschen Regierung beigebracht wurde. Das festzuhalten heißt zunächst, festzuhalten, wo der Gegner steht: in Berlin. Damit ist auch gesagt, worin die erste Aufgabe der Linken besteht. Die Ernsthaftigkeit des linken Einspruchs gegen das Bestehende hängt an der Ernsthaftigkeit der Anstrengungen, auf den Sturz der Partei Schäuble und ihr baldmöglichstes Verschwinden aus der Geschichte hinzuwirken.
Mit der Anerkennung der Niederlage ist der Prozess also noch nicht zu Ende. Offen ist er in mehrfacher Hinsicht. Die wichtigste Hinsicht ist die auf den Fortgang des Projekts von SYRIZA. Dessen Kern war und ist der Versuch, die soziale und ökonomische Krise in eine politische Krise zu verwandeln und deren Lösung auf europäischem Terrain, damit aber auch auf dem Terrain der EU zu suchen. Die Größe des Wagnisses lag und liegt darin, der Transnationalisierung der Herrschaft endlich wieder eine Transnationalisierung des Widerstands und der Alternative entgegengesetzt zu haben: weiter konnte die Tür zu der anderen Welt, die möglich ist, nicht aufgestoßen werden.
Auch hier sind wir noch nicht am Ende. Die Verwerfungen der letzten Tage haben gezeigt, dass der Sieg Berlins noch nicht sicher ist. Das liegt zum einen daran, dass sich die Risse im herrschenden Block vertieft haben und von Spaltungs- zu Bruchlinien werden können: Bruchlinien zwischen Kern- und Südeuropa, Bruchlinien auch zwischen Berlin und Paris und zwischen Berlin und London. Dazu gehört zugleich, dass noch nicht ausgemacht ist, was die Regierung Tsipras in der Schuldenfrage erreicht haben wird. Im Kampf gegen Austerität ist das nicht bedeutungslos.
Zu sagen, was gesagt werden muss, dass der Gegner in Berlin steht, und dass der Kampf darauf zielen muss, ihn zu besiegen, heißt nicht, dass die erlittene Niederlage schon begriffen wäre. Halten wir deshalb zuerst fest: Der Sieg der Partei Schäuble (die zugleich die Partei Gabriel ist) war nicht von Anfang an sicher, das Wagnis SYRIZAs konnte und musste eingegangen werden, es muss sogar fortgesetzt werden. Wer behauptet, vorab schon gewusst zu haben, dass es unausweichlich so kommen musste, wie es gekommen ist, hat von der Offenheit der Geschichte nichts verstanden.
Halten wir dann fest: Die Partei Schäuble hat gesiegt, weil sie sich der Zustimmung von 70 Prozent der deutschen Gesellschaft sicher sein konnte. Das darin artikulierte Machtverhältnis entspricht den Machtverhältnissen in der großen Mehrheit der EU-Gesellschaften, voran der baltischen und skandinavischen, auch der niederländischen und der französischen, wohl auch der italienischen. Wer das nicht anerkennt und versucht, daraus strategische Schlüsse zu ziehen, wiegt sich und andere in womöglich tödlicher Illusion. Die Massen, um das in traditioneller Rhetorik zu sagen, stehen selten links, und sie haben das auch diesmal nicht getan. Die Geschichte ist offen, weil das nicht so bleiben muss.
Die Partei Schäuble hat aber auch siegen können, weil die Mehrheitsverhältnisse in Griechenland selbst zwar deutlich anders sind als in Resteuropa, doch nicht anders genug, um heute andere Verhältnisse zu haben. Halten wir noch einmal und unmissverständlich fest, dass nur eine Minderheit der OXI-Wähler*innen, also eine Minderheit von 60 Prozent der Griech*innen, bereit waren, und darauf wette ich, bereit sind, das Elend unter dem EU-Regime mit dem Elend eines »linken« Staatsgrexit zu vertauschen.
Vor diesem Hintergrund hat die SYRIZA-Mehrheit sicher Fehler gemacht, doch ist Alexis Tsipras eben kein »Verräter«: Er ist davor zurückgewichen, der Mehrheit der Griech*innen »von oben« den Bruch aufzuzwingen, der nur »von unten« kommen kann. Ich sage nicht, dass er getan hat, was in emanzipatorischer Hinsicht zu tun möglich war: Er hat sich an die Grenzen der ihm gegebenen Regierungsposition gehalten.
Die Frage, was zu tun bleibt, ist die zentrale Frage linker Strategie, und sie findet gerade deshalb keine einfache und nicht nur eine Antwort. Die SYRIZA-Mehrheit und die, die ihr zustimmen, anerkennen die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse an und entwerfen ihre Politik in der Perspektive, diese Verhältnisse langsam und auf lange Sicht zu ändern. Verwechselt man diese Position nicht mehr der absoluten politischen Verkommenheit der Gabriel-SPD, kann sie »sozialdemokratisch« oder »sozialistisch« genannt werden, nach der ursprünglichen Bedeutung des Worts. Die Grenzen dieser Position liegen ebenso auf der Hand wie ihr gleichermaßen begrenztes, als solches aber unbestreitbares Recht. Es wird darauf ankommen, was die SYRIZA-Mehrheit jetzt daraus macht.
Diejenigen, die während der Proteste des gestrigen Abends die von der SYRIZA-Regierung befehligte Polizei angegriffen haben, haben ebenso unbestreitbar recht. Sie artikulieren die Ablehnung der bestehenden Mehrheitsverhältnisse in Griechenland und Deutschland und das Widerstandsrecht der Minderheiten: das erste und wichtigste aller Menschenrechte, das, mit dem alle anderen stehen und fallen. Und: Sie sind es, die zu Recht die Entscheidung über die Form dieses Widerstands fällen. Er kann sich auf die Artikulation der eigenen Minderheitsposition beschränken: sich angesichts des Elends und der Demütigung trotz der herrschenden Mehrheitsverhältnisse und gegen sie Sicht- und Hörbarkeit zu erzwingen. Das schließt nicht aus, darin ebenfalls einen Weg zu sehen, diese Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Wer den Bruch mit Elend und Demütigung will, muss ihn zumindest für sich selbst auch vorwegnehmen können, im eigenen wie im Namen derer, die dabei mitgehen.
Bleibt das Problem, ob und wie diese beiden in sich legitimen Positionen verbunden werden können. Ich glaube, dass man beide zugleich denken kann und muss, dass man begrenzt sogar beides tun kann und muss, aber beides eben nicht gänzlich vermitteln kann: Der Begriff »Doppelstrategie« hat sich dieses Problem schlechthin allen emanzipatorischen Handelns immer zu leicht gemacht. Seine provisorische Lösung besteht erstens darin, sich in den Mehrheitsverhältnissen nicht zu täuschen, sie besteht zweitens darin, aus der eigenen Minderheitsposition heraus rückhaltlos für den Sturz der Partei Schäuble zu kämpfen. Sie besteht drittens darin, sich nicht in der Position der Minderheit einzuhausen. Der Gegner steht in Berlin, und er ist nur und nichts anderes als das.
Thomas Seibert ist Philosoph, Aktivist und in verschiedenen sozialen Bewegungen und politischen Zusammenhängen aktiv.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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