Kleinodien einer Rückwärtsutopie

Das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg gedenkt des Zeichners und Miniaturisten Manfred Kiedorf

  • Matthias Thalheim
  • Lesedauer: 6 Min.

Jungs, ich steh auf Eurer Seite, ich fülle Eure Hohlräume.« Mit solch dreisten Sprüchen schwadronierte Manfred »Graf« Kiedorf (1936-2015) als zechfreudiger Kneipen-Krull über fünf Jahrzehnte durch Ostberliner Lokalitäten. Dass er eine spritzige Zeichenfeder führte, konnte er auf Bierdeckeln und Kellnerblöcken beweisen. Ob Porträtvignetten oder huldvolle Verse für die Weiblichkeit - Kiedorfs Esprit und Redeschwall vermochten halbe Gaststättenbelegungen in Duldungsstarre zu versetzen.

Dass in seinen Händen zierlichste Figuren und winzige Möbel der Rokoko-Zeit detailgenau entstanden, konnten ausgewählte Freunde bezeugen, die Teile der von ihm im Maßstab 1:50 gebauten Schlösser mit all den Pferden, Kaleschen und Kandelabern in Kiedorfs Kachelofenwohnung erstrahlen sahen. Eins zu fünfzig heißt: die menschliche Figur kaum drei Zentimeter hoch. Charakterköpfe wie ein Reiskorn groß. Mit winzigen Löckchenperücken. Vom Flaum eines Lammembryos.

Und dass Manfred Kiedorf ehedem im Kollektiv des DDR-Comics »Mosaik« mitgewirkt hatte - mit der Gestaltung von Ritter Runkels Burgenschiff zum Beispiel - mehrte durchaus die Bewunderung, die ihm entgegenschlug. Zinnfiguren für Dioramen, fürs Post-Museum das Modell einer Kutschenstation - all das mochte man diesem Desperado zutrauen. Für viele der Trinkgefährten aus dem »Wiener Café« oder »Lampion« bildet es bis heute die Kontur des Kiedorfschen Formates. Beinahe alles hätten sie ihm zugetraut, nur keine Tiefstapelei.

Als dann jedoch im Winter 2000 in Sonneberg sein Phantasiereich »Dyonien« mit Schloss Eulenlust, dem Kronprinzenpalais Musenhofen, Jagdschloss Diona, der Lustburg Grauenstein und dem Residenzschloss Pyrenz mit Mausoleum, Rechnungshof, Parkruine sowie dem Kloster Heiligschläuch komplettiert eine fulminante Ausstellung erfuhr und sich im Katalog die geistig zeitliche Dimension dieser Schöpfung abzeichnete, blieben selbst den Kiedorf-Kennern die Worte weg.

Zwei barocke Miniaturmonarchien mit über 1000 Figuren Hofgefolge, mit eigener Sprache und Zeitrechnung (Uhren mit nur sieben Ziffern), mit sieben Monaten (Jonua, Pezua, Tala, Katril, Geomber, Schwalbender, Lidender), mit Mythologie und Nationaldichtung. Zwei kunstvolle Königreiche: »Pelarien« und »Dyonien«. Auf keinem Atlas zu finden. Und doch existent! Auf dem eigens erschaffenen zehnten Planeten »Centus«, der vorgeblich hinter der Venus steckt und sich derart degoutant analog zur Erde dreht, dass er von hier aus nie zu sehen ist.

Um 1952 hatte diese Schöpfung ihren Anfang genommen, in Sonneberg, wohin Kiedorfs Vater als Postbeamter versetzt worden war. Hier traf Manfred auf den Dialogpartner seines Lebens - den zwei Jahre jüngeren Gerhard Bätz. Beide Jungs Träumer, die, obschon sie sich in einer Berufsausbildung zum Dekorateur befanden - einer HO, einer Konsum - lieber mit Halma-»Männeln« spielten. Mit Grammophonnadeln bewaffnet, bauten sie Hunderte dieser Holzfiguren in ganzen Heeren zu Kriegsformationen auf, stellten Schlachten nach und gossen aus Zinn Kanonen, die mit abgeschabten Riesaer Streichholzkuppen-Pulver Luftgewehrkugeln verschießen konnten. Bald wurden die Herrscher der beiden Halma-Völker getauft, gekrönt und eingekleidet, bis Manfred Kiedorf eines Tages König Heinrich anbrachte und sagte: »Das ist Heinrich der ganz Große!« Denn der hatte - weil erstmals mit Beinen versehen - einen neuen Maßstab - 1:50. Das war eine Revolution. Nun mussten sie alle Halma-Figuren verwerfen, gänzlich neue Figuren modellieren, und zwei Reiche samt Gefolgschaft entstanden: Bei Gerhard Bätz »Pelarien« und bei Manfred Kiedorf »Dyonien«. Mit Höflingen wie dem Finanzminister Alfons Schnorr zu Rabenäußig, dem Hofarchitekt Hieronymus Siebenhühner, Hofpoet Bombastus von Igelshieb, dem Hofkoch Kurt Kräse, dem Hofastronom Kuno von Neufich auf Erbisbühl, dem Genealogen Rigeros von Ritzentod, der Hofsängerin Leonilda Tumulti, dem Hofnarren Gregor Miesi-Pedes oder den Hofdamen Lissy Schüppler und Tulde Geifermeyer, Vorleserin der Königin etc.

Und weil die beiden Schlösserbauer sich bald ernster mit Malerei und Geschichte beschäftigen, verfeinerten sich ihre Ansprüche: Kiedorf kann ab 1956 bei Heinrich Kilger an der Kunsthochschule Weißensee Bühnenbild studieren, Gerhard Bätz wird Restaurator im Spielzeugmuseum Sonneberg und reist in den 80er Jahren nach Hessen aus.

Beide wechseln in den 50 Jahren Bauzeit ihres Prunks über 3000 handgeschriebene Briefe voller Skizzen und Konstruktionszeichnungen. Sie tauschen sich zu den Rezepturen ihrer Baustoffe aus. Latex, Schlämmkreide, Silikone. Brief von Ost-Berlin nach Fulda: Wieder mal keine Chance, an Blattgold ranzukommen. Gerhard Bätz kümmert sich und schickt. Nicht alles kommt an. Brief von Fulda nach Ost-Berlin: Die Effekte, die man mit dem DDR-Klebstoff »Duosan rapid« erzielen kann - glasklare Wasserfontänen zum Beispiel - sind mit »Uhu« nicht hinzukriegen. Kiedorf wird sich dahinterklemmen, aber die Tuben sind - wie vieles im Osten - auch nicht immer zu kriegen.

Doch was sind die profanen Materialien gegen die Berichte zum höfischen Treiben der aus ihnen hervorgegangenen Geschöpfe? Auf Kiedorfs Schloss Perenz steigt Talari III. in die güldene Wanne des Königlichen Lustbades. In seiner Mansardenkammer kopuliert der Hofarchitekt Johann Nichtsislaus von Binder zum Frühstück mit einer in Verzückung die Beine spreizenden Zofe. Der Finanzminister spielt einhändig Spinett, während er mit der anderen Hand und seinen Münzen in der Rocktasche den Takt dazu klimpert. Leibmediziner Dr. Weinreich schaut prüfenden Blickes in eine hauchzarte Phiole mit dem Morgenurin seiner Majestät. In ihren Dichterstuben suchen sich Bombastus der aus Igelshieb und sein Rivale Erich vom Sauerteige mit Oden, Singspielen und Hymnen zu übertreffen.

Sieben Jahre lang war die Ausstellung der Schlösserwelten deutschlandweit zu bestaunen: Auf Schloss Friedenstein in Gotha, in der Alten Synagoge Erfurt, auf Burg Weesenstein, in der Schloss-Fasanerie in Fulda, in Wernigerode, Hanau, Bad Arolsen, Altena und Bergisch-Gladbach. Den beherzten Museumsleuten der Heidecksburg in Rudolstadt um Dr. Lutz Unbehaun ist schließlich der Ankauf dieser Lebenswerke zu danken. Sie bauten die Räume der früheren Hofküche aus, und hier werden seit 2007 die »Schlösser der gepriesenen Insel«, diese Kleinodien einer Rückwärtsutopie, als Dauerausstellung präsentiert. Vor bislang 250 000 Besuchern! Hier erteilte man Bätz und Kiedorf 2010 auch die Thüringische Ritterpromotion »Chevalier de la noble passion du château Heidecksburg« mit allen Ehren, Privilegien und dem Titel eines Ritters der edlen und adeligen Neigung.

Am Ende seines auf Messers Schneide balancierten Lebens, in dem er wegen Unterhaltsschulden (sechs Kinder) auch zwei Mal im Haftlager »Schwarze Pumpe« einsitzen musste und später von seiner geduldigen dritten Ehefrau Roswitha über Wasser gehalten wurde, verfügte Manfred Kiedorf schließlich über die finanzielle Beweglichkeit, die »der Graf«, wie seine Hoheit sich selbst zu titeln pflegte, zu seiner Lebensführung benötigte. Da war er siebzig und hatte noch acht Jahre zu leben.

Die Paradoxie, dass dieses Urberliner Original Kiedorf - einer der bummelletzten Emissäre E.T.A. Hoffmanns - in Thüringen auf Schloss Heidecksburg die ihm zustehende Ehrung widerfährt, hätte Gegenstand einer seiner zahllosen Spottkarikaturen sein können. Kiedorf, der als Zeichner das Florett ebenso beherrschte wie den Zwölf-Pfund-Mörser, zeigt sich auf seinen Postkartenblättern als ein kobolzschlagender, seherischer Weiterfabulierer der Wirklichkeit und wacher Chronist des alltäglichen Irrsinns der Popularpolitik.

Auf sein Grab auf dem Friedhof in der Berliner Bergstraße hat Kiedorf die Skulptur einer den Krug haltenden »Hebe« (Mundschenk der Götter) verfügt. Schwer zu glauben, dass Manfred Kiedorf seinen Becher beim großen Kellermeister tatsächlich abgegeben haben sollte.

»Kiedorfs Panoptikum«. Kabinettausstellung in der Porzellangalerie des Residenzschlosses Heidecksburg vom 14.8.2015 bis 3.1.2016. Zur Eröffnung am Freitag, dem 14. August, 18 Uhr, spricht Matthias Biskupek. Katalog, 80 S., geb., 12,50 €. www.rococoenminiature.de

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