Gut, verboten, schlecht, erlaubt
Nach 30 Jahren als Muslimin habe ich auf die Körperverhüllung verzichtet. Denn: Was für eine Vorstellung von Gott und der Frau steckt dahinter?
Eine Frau in langem Popelinemantel und mit Kopftuch steigt in die S-Bahn. Mir gegenüber sitzt eine Frau in kurzärmeligem Sommerkleid. Ich schwitze. Es ist Hochsommer in Berlin. Bei diesen Temperaturen wird Kleidung bevorzugt, die Luft an den Körper lässt. Das festgebundene Kopftuch und der lange Mantel sind aber eher herbstlich. Doch niemand würde die Frau fragen, warum sie sich so kleidet und vielleicht umso mehr leidet.
Als Frau, die 30 Jahre als praktizierende Muslimin mit Kopftuch gelebt hat, weiß ich, dass die verhüllte Frau eine religiös begründete Bekleidungsregel befolgt. Ihre Verhüllung soll ihr Bekenntnis betonen. Sie lebt ihre Religion aus, mit der sie ihre Unterwerfung unter Gottes Gesetze ausdrücken will. Sie hat schließlich gelernt, dass sie für ihr momentanes Leiden belohnt werden wird, nach ihrem Tod, im Jenseits. In ihr herrschen Vorstellungen, die sonst keiner der sommerlich Gekleideten in der S-Bahn hat. Die anderen quälen sich auch, aber sie leben praktisch, suchen nach Abhilfe, würden vermutlich niemals auf die Idee kommen, für eine »Belohnung nach ihrem Tod« jetzt noch mehr Hitze zu ertragen. Vielmehr geht es den anderen um die Auseinandersetzung im Hier und Jetzt. Und mir neuerdings auch.
Emel Zeynelabidin ist in Istanbul geboren. Seit 1961 lebt sie in Deutschland, hat Anglistik studiert und sich jahrzehntelang am Aufbau von Bildungseinrichtungen in der Islamischen Gemeinde in Berlin aktiv beteiligt. 2005 verließ sie die Gemeinde und legte nach 30 Jahren ihre religiös begründete Verhüllung ab. Seitdem engagiert sie sich als öffentliche Person und Autorin für ein besseres Verständnis zwischen der geschlossenen Welt der muslimischen Gemeinden und der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Dabei sucht sie die Konfrontation, die nicht beleidigt, sondern zum Nachdenken auffordert.
Ich traue mich nicht, die Frau im Mantel zu fragen, so wie eine, die keine Ahnung hätte. Die ganze Thematik ist heikel geworden, nachdem sich die Islamischen Verbände vor Jahren wegen dieser Verhüllung mit der deutschen Politik angelegt haben. Viele der verhüllten Frauen kennen aber gar nichts anderes und würden sich anders gekleidet nackt und schamlos vorkommen.
Der Glaube an das Jenseits gehört zu den essenziellen Glaubensgrundsätzen von Muslimen. Dabei übt der Koran heute noch einen starken Einfluss auf das Leben eines praktizierenden Moslems aus. Doch ich bin nun seit zehn Jahren unverhüllt, unauffällig, eingetaucht in die Mehrheitsgesellschaft und damit beschäftigt, zu verstehen, dass ich über 30 Jahre in bestimmten Glaubensvorstellungen gelebt habe, die sich seit zehn Jahren durch meinen Lebenswandel permanent korrigieren.
Dabei, und das ist eine meiner wichtigsten Erfahrungen, ist es gar nicht schlimm, kein Kopftuch zu tragen. Und meine Haare, die heute vom Wind durchweht werden, stören tatsächlich keinen Mann. Warum sollten sie »Gott« dann stören? Es ist doch merkwürdig, zu glauben, Gott fände es schlimm, wenn eine Frau selber entscheidet, wie sie sich kleiden will.
Wenn das Verhalten motiviert ist von einer Gedankenwelt, die das Leben aufteilt in ein Diesseits und ein Jenseits, wie sollen dann Muslime und Nichtmuslime miteinander überhaupt kommunizieren? Was für eine genaue Vorstellung von Gott und der Frau stecken dahinter?
Das sind nur einige Fragen, die ich mir erst heute stellen kann, nachdem ich viele neue Erfahrungen gemacht habe, wie eine, die mit geöffneten Augen ihre Welt neu betrachtet.
Rückblickend habe ich an mir einen Fortschritt erlebt: Heute fällt es mir nicht mehr schwer, Arme und Beine bei Bedarf leicht bekleidet zu lassen und meine Haare dem Wind auszusetzen. Dazu gehört, als Frau, Mut und Selbstbewusstsein, wenn man durch ein anerzogenes Schamgefühl und mit einer Verordnung für eine ganz bestimmte Bekleidungsregel jahrzehntelang den Bezug zu seinem Körper fast verloren hat. Heute kann ich mich flexibel kleiden, ohne meinen Glauben und meine Identität als Muslimin zu verleugnen.
Dem Verhalten von praktizierenden Muslimen liegt ein Gottesbild zugrunde, das jeder kennen sollte, der ins Gespräch mit ihnen kommen will. »Gott«, so heißt es, sei ein autoritärer Gesetzgeber, der alles am besten wisse und für seine Gebote und Verbote Gehorsam einfordere, die allesamt hergeleitet seien aus dem heiligen Koran und den Aussprüchen des Propheten Muhammed. Gott verspreche den Gläubigen für ihre Folgsamkeit reichliche Belohnung im Jenseits. Wer daran glaubt, der nimmt auch Nachteile in seinem sozialen, beruflichen und persönlichen Leben in Kauf. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Regelungen aus Zeiten vor mehr als einem Jahrtausend stammt.
Praktizierende Muslime glauben an das, was sie gelernt haben. Deshalb ist es wichtig, darauf zu achten, was ihnen beigebracht wird. Seit Generationen wird die islamische Erziehung beherrscht von der Tradition des so genannten Taqlid, des Nachmachens dessen, was religiöse Geistliche in der fernen Vergangenheit als festgeschriebene Verpflichtungen in der Religionspraxis bestimmt haben. Dazu haben sich noch patriarchale Traditionen gesellt, die mit ihrem hierarchischen Gefälle zwischen Alt und Jung, Frau und Mann bis heute Denkmuster wie »gut und schlecht«, »erlaubt und verboten« in die Köpfe der kommenden Generationen pflanzen. Die Verhüllung muslimischer Frauen gehört zu dieser Religionspraxis mit moralischem Maßstab für »starken und schwachen Glauben«.
Dabei hat dieser menschengemachte Maßstab nur wenig mit dem zu tun, was im Islam als Glaube verstanden wird. Es steht nirgends geschrieben, dass Gott oder der Prophet Muhammed eine Bekleidungsvorschrift wünschen. Es sind die Gelehrten, die in der so genannten Scharia, der Rechtsprechung, Traditionen festgesetzt haben, die bis heute eingehalten werden.
Heute frage ich mich als »normal Gekleidete«: Wenn diese Verhüllung für die Frauen ein »Gottesgesetz« sein soll, aber nur eine bestimmte Gruppe von Frauen dieses um ihres Heils im Jenseits Willen befolgt, um moralisch und würdevoll zu sein, wie steht es dann im Angesicht Gottes um die Moral und Würde all jener Frauen im Diesseits, die nicht zu dieser bestimmten Gruppe gehören und diese Regeln nicht befolgen?
Bedenklich finde ich, dass diejenigen, die sich vorwiegend über ihre religiös begründeten Regeln und Rituale definieren, es nicht für nötig halten, ihre Vorstellungen im Kontext des heutigen Lebens mal auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. So werden an nachfolgende Generationen Vorstellungen weitergegeben, die, ohne diskutiert zu werden, befolgt werden müssen. Der Islam wird heute als Buch- und Regelglauben weitergegeben. Aber Heranwachsende brauchen einen Freiraum, in dem sie ihre eigenen religiösen Vorstellungen entwickeln können, um zu lernen, dass Religion nur ein Angebot ist, sich eine Welt zu schaffen, in der »Gott« auch jenseits von Religion und ohne »heilige Bücher« einen Platz in ihrem Leben finden kann.
Das Allgemeinwissen, das im Rahmen der Schulpflicht an staatlichen Schulen gelehrt wird, bildet die Basis für zwischenmenschliche Kommunikation. Die strikte religiöse Unterweisung, die Muslime jedoch zusätzlich erhalten, birgt die Gefahr der Isolierung einer Minderheit, für die die eigene Religion zu sehr im Mittelpunkt steht. Die Identitätspolitik, die in den letzten Jahrzehnten von islamischen Verbänden wie z.B. der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) im Rahmen der Integrationspolitik etabliert wurde, hat mit dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht für muslimische Schüler neuerdings Einzug in die Klassenräume gehalten.
Es ist ohnehin fragwürdig, ob Kinder und Jugendliche in der Lage sind zu entscheiden, ob eine Religion, und wenn ja, welche für sie hilfreich ist. So aber wachsen sie nicht in eine Identität hinein, sondern bekommen die Identität übergestülpt, die Eltern und Bildung vorsehen.
Als ich 1987 und 1989 Mitbegründerin des 1. Islamischen Kindergartens und der 1. Islamischen Privatschule war, gab es weit und breit noch keine pädagogischen Konzepte oder Schulbücher für Kinder aus muslimischen Familien. Die erste und einzige Erzieherin türkischer Herkunft, die auch ein Kopftuch trug, wurde unsere erste Angestellte. Zweck der Schulgründung war es gewesen, »muslimischen Kindern eine Identität zu vermitteln, die es ihnen ermöglicht, sich in eine pluralistische Gesellschaft zu integrieren, ohne sich assimilieren zu müssen«.
Seit über 20 Jahren scheint es, dass wir mit unserer wenig durchdachten Pionierarbeit einen Stein ins Rollen gebracht haben: Überall entstehen immer mehr Kindergärten für muslimische Familien und Institute für Islamische Theologie, die Lehrer ausbilden, um analog zum christlichen Religionsunterricht ein Angebot für Schüler aus muslimischen Familien anzubieten. Betül Ulusoy, eine angehende Juristin mit Kopftuch aus Berlin, war bis zur 6. Klasse eine unserer Schülerinnen. Ihre Bewerbung um einen Referendariatsplatz beim Bezirksamt Neukölln, die von Missverständnissen überschattet war, gipfelte in einem medialen Wirbel, den der Tagesspiegel veranstaltete und den das Bezirksamt mit einer Presseerklärung beenden musste, um sich gegen Diskriminierungsvorwürfe zu wehren. Außenstehende mögen sich gefragt haben, warum heute insbesondere junge Frauen trotz ausgeprägtem Selbstbewusstsein auf die demonstrative Zurschaustellung ihrer Glaubenszugehörigkeit und die Unterordnung unter »Gott« - zugunsten der Verbesserung ihrer beruflichen Lage und der menschlichen Beziehungen - nicht verzichten können. Schließlich ging es dem Propheten ja angeblich auch um die Schaffung von Menschenrechten für die Frauen. Die Allgemeinbildung hat im Islam, ohne Unterschied zwischen den Geschlechtern, eine sehr hohe Priorität. Muhammeds erste und langjährige Ehefrau, Khadija, war eine gebildete und erfolgreiche Handelsfrau.
Der Islam wird heute aber als ein System von Regeln, Ritualen und Gesetzen dargestellt. Dabei geht es um die Sicherung der Herrschaft von Männern über Frauen. Was Muhammed zum Wohl der Frauen seiner Gesellschaft allmählich eingeführt hatte, wird heute in Ländern wie Saudi-Arabien, Iran und Afghanistan schamlos missachtet! Dort zwingen die Staatsoberhäupter ihre Bürgerinnen im Namen Gottes mit gesetzlichen Verordnungen, sich in der Öffentlichkeit nur in kompletter Verhüllung zu zeigen. Sie haben keine Wahl. Das aber wiederum schränkt sie in ihrer Bewegungsfreiheit ein und raubt ihnen das Recht auf Bildung und Arbeit.
Was ist heute also los mit den muslimischen Gemeinschaften? Was ist los mit den Gesellschaften, die sich allgemeingültige Menschenrechte jenseits von Religionen erarbeitet haben? Heute schmoren Frauen dort im Namen des Islam unter ihren Hüllen, werden bei Aufmüpfigkeit geschlagen und weggesperrt, und die Weltgemeinschaft schaut tatenlos zu?
Der Integrationspolitik scheint es bisher nicht darum zu gehen, Hindernisse und Barrieren zu überwinden. Ein ernst gemeinter Annäherungsprozess wäre harte Arbeit. Es herrscht noch eine Distanz und gegenseitige Unkenntnis, die auf der einen Seite einen wachsenden Rassismus und auf Seiten von Muslimen eine Radikalisierung als Abgrenzungsstrategie hervorgebracht haben.
Ein Denken in hierarchischen Strukturen, das als Gruppenprozess daherkommt, birgt heimtückische Fallen. Die Annahme, Gott verlange Unterwerfung, kann besonders Frauen in die Irre und aus Gewissenskonflikten in die Verzweiflung führen. Denn sie sind es, die mit den sozialen Einschränkungen, die die Verhüllung mit sich bringt, um ihr diesseitiges Leben betrogen werden. Denn das Wort Gottes erreicht jeden nur als Interpretation. Es zu verstehen und Gottes Wille zu kennen, ist doch ziemlich überheblich.
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