Ist die »Revolution« doch nur ein Bildermalen?
Teil II meiner Nachfragen an Katja Kipping. Gastbeitrag von Detlef Georgia Schulze
Im am Montag erschienen Teil I meiner Nachfragen an Katja Kipping zu dem von ihr am Samstag aufgestellten Postulat »Europa zu revolutionieren«, hatte ich vor allem die Grundsatzfrage aufgeworfen, wie ernst das Wort »revolutionieren« zu nehmen ist, wenn gleichzeitig von einem bloßen »Austritt aus der Austerität« gesprochen wird und meinerseits mit Marx’ Analyse der Erfahrungen der Pariser Commune (1) geltend gemacht, daß eine Revolution ohne Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates nicht zu haben ist.
Und für den hiesigen II. Teil hatte ich angekündigt, mich »auf die Mühen der Ebenen des Textes von Katja Kipping einzulassen«. Dies soll nun geschehen:
Kein Verrat, aber trotzdem falsch
Ziemlich am Anfang ihres Textes schreibt sie: »Was der Linken in Europa jetzt auf keinen Fall weiterhilft, ist eine Bearbeitung des strategischen Dilemmas mit Verratsvorwürfen gegenüber Alexis Tsipras.« Wie schon mehrfach dargelegt (2), stimme ich dieser Auffassung zu – allerdings deshalb, weil es hieße, ein politisches Problem zu personalisieren (es auf den vermeintlich schlechten oder schwachen Charakter Tsipras zu reduzieren oder es in ein solches Problem zu verdrehen) und weil es bedeuten würde, das Wahlprogramm von SYRIZA außerhalb der Kritik zu stellen und nur das Abgehen von diesem zu Skandalisieren.
Was meines Erachtens als einziges der Vergangenheit – dem, was in der Vergangenheit passiert ist – adäquat ist und auch für die Zukunft weiterhilft, ist, die Fehler nicht erst in den zwei Wochen zwischen der Referendums-Ankündigung und der Nacht in Brüssel vom 12. zum 13. Juli zu suchen. Und noch weniger angemessen wäre, in dem, was passiert ist, gar keine eigenen Fehler, sondern nur die Übermacht der Gegner und Gegnerinnen zu sehen.
Denn die GegnerInnen sind immer böse, gemein und übermächtig – das ist der Ausgangspunkts jeder Politik, die etwas ändern möchte. Die entscheidende Frage muß also immer sein, wo die eigenen Fehler lagen – d.h., warum es nicht gelungen ist, der Bosheit, Gemeinheit und Überlegenheit der GegnerInnen ‚unsererseits’ überlegene Kräfte entgegenzusetzen.
Warum gelang es nicht, überlegene Kräfte zu entwickeln?
Auf diese entscheidende Frage kann ich leider auch nur eine negative Antwort geben: Meines Erachtens lag es jedenfalls kaum an den Inhalten. Das heißt nicht, daß (mir) die Inhalte egal sind. Vielmehr liegen meine Sympathien in der Bandbreite SYRIZA – LAE – KKE – ANTARYSA ganz eindeutig bei letzterer. Aber obwohl die Inhalte von ANTARSYA – und vielleicht sogar der KKE – m.E. richtiger sind, als die SYRIZAs, ist es ja auch diesen beiden Formationen bisher nicht gelungen, stärkere Kräfte zu entwickeln.
Das Problem muß also auf einer anderen Ebene liegen. Und es besteht jedenfalls auch nicht darin, daß SYRIZA zu parlamentarisch orientiert war (und ist) (das war und ist sie in der Tat) – nur hilft es auch ANTARSYA nicht, daß sie gar nicht im Parlament sitzt und die KKE sich in ‚bester’ anarchistischer Absentismus (3)-Tradition nicht einmal an der ‚Elefantenrunde’ im griechischen Fernsehen beteiligen will (4).
Die Linken europaweit spalten?
Ich lese – im Kontext der gemeinsamen Presseerklärung von Katja Kipping und Bernd Riexinger vom 21. August (»Alexis Tsipras genießt ungebrochenes Vertrauen« / »DIE LINKE in Deutschland unterstützt Alexis Tsipras mit allen Kräften dabei, erneut eine Mehrheit für eine linke Regierung in Griechenland zu erringen.«) (5) – aus dem Satz, »Was der Linken in Europa jetzt auf keinen Fall weiterhilft, ist eine Bearbeitung des strategischen Dilemmas mit Verratsvorwürfen gegenüber Alexis Tsipras.«, auch noch etwas heraus, was dort nicht explizit gesagt ist: Nämlich eine Kritik an denen, die sich nun auf Seiten der LAE / »Volkseinheit« (oder vielleicht besser: »Populare Einheit«) schlagen und sich wünschen, daß die Linkspartei, die Interventionistische Linke (IL) und überhaupt alle Linken, die ‚wahrhaftig’ etwas gegen Austeritätspolitik haben, das auch tun.
Ich teile jene Kritik an den LAE-Fans durchaus – zumal meine Sympathien, wie gesagt, eh weder bei der LAE noch bei der Tsipras-SYRIZA, sondern bei ANTARSYA liegen, aber ich würde auch sagen: Jene Kritik käme deutlich glaubwürdiger rüber, wenn sich die beiden Linkspartei-Vorsitzenden nicht ihrerseits sehr zügig auf die Seite Tsipras geschlagen hätten.
Ich denke, ANTARSYA hat gute Gründe, warum sie weder bei SYRIZA, noch bei der LAE noch bei der KKE mitmacht (falls sie denn bei letzterer überhaupt mitmachen dürfte). Ich meine auch selbst gute Gründe zu haben, warum ich nicht bei der Linkspartei mitmache, auch wenn ich mich jetzt schon zum dritten Mal zu einer Debatte äußere, die vor allem von Linkspartei-Mitgliedern und -SympathisantInnen geführt wird.
Ich bin allerdings auch der Auffassung, daß Leute, die sich bisher – aus guten oder schlechten Gründen – in einer Organisation mehr oder minder gut vertragen haben, nicht über eine Organisationsfrage in einem anderen Land spalten sollten.
Ich verstehe nicht, warum die Linkspartei anscheinend nicht bereit oder in der Lage ist, in etwa folgende Erklärung im Parteivorstand zu verabschieden:
‚Wir haben zur Kenntnis genommen, daß der große Druck, dem die griechische SYRIZA-Regierung ausgesetzt war, dazu geführt hat, daß sich SYRIZA in einer schweren Krise befindet. (Wir bedauern dies.)
Einige Parteimitglieder und auch führende FunktionärInnen haben sich abgespalten und eine neue Formation namens ›Populare Einheit‹ gegründet, andere sind aus- oder jedenfalls von ihren Ämtern zurückgetreten, ohne sich der neuen Formation anzuschließen.
Wir verspüren im Moment weder Bedürfnis noch Notwendigkeit, uns als Linkspartei insgesamt von Deutschland aus auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Wir können verstehen, warum sich Tsipras entschlossen hat, ein drittes Memorandum zu unterschreiben, das noch härter ist als die vorhergehenden und kaum Spielraum für eine alternative Politik läßt. Und viele von uns halten es sogar für richtig. Der Grund ist: Daß auch die Erfolgsaussichten und Wirkungen jeder anderen linken Politik höchst ungewiß sind.
Wir können aber genauso gut verstehen, warum es die LAE für unvertretbar hält, dieses neue Memorandum zu unterschreiben und die alten unangetastet zu lassen. Und einige von uns teilen sogar den Optimismus der LAE, daß ein linker Grexit als Regierungspolitik machbar ist und zu einem positiven Effekt für die breiten Massen führen wird.
(Und {– falls es denn solche in der Linkspartei gibt –} einige von uns sind der Auffassung, daß SYRIZA zu schnell, zu weit und zu unbedacht vorgestürmt ist und sich erst [einmal] aus der Regierung zurückziehen, die Lage überdenken, neue Kräfte sammeln und eine neue Strategie entwickeln sollte.)
Ungeachtet dieser unterschiedlichen Auffassungen halten wir aber gemeinsam an einem OXI zur Austeritätspolitik fest, unsere Solidarität gilt weder dem Regieren um des Regierens willen von SYRIZA noch dem Regieren um des Regierens willen der LAE, sondern unsere Solidarität gilt den breiten Massen in Griechenland:
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Sollten sich in Griechenland Protest und Widerstand gegen die Implementierung des dritten Memorandums entwickeln, dann werden wir gemeinsam an der Seite dieses Protestes und dieses Widerstands stehen, auch wenn sie sich gegen eine SYRIZA-Regierung richten.
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Aber wir werden auch an der Seite der breiten Massen in Griechenland stehen, falls die LAE die Gelegenheit bekommen sollte, ihre Linie auszuprobieren, und sich herausstellen sollte, daß ein nationalstaatlicher, kapitalistismus-immanenter Grexit zu genau der gleichen oder noch größerer Austerität und Verarmung führt.’
Warum mache ich einen solchen versöhnler-In-ischen Vorschlag?
Weil ich nichts davon hätte, wenn sich die Linkspartei entlang einer Spaltunglinie FdS + Ema.Li vs. AKL – und SL vllt. auf beide Lager aufgeteilt – zerlegen würde. (6) Ich fürchte: Jedes dieser Spaltprodukte stünde mir noch ferner als die Linkspartei in ihrer bunten Mischung.
Und entsprechend auch außerhalb der Linkspartei: Mir scheint eines der grundlegende Probleme der Linken im allgemeinen ist bereits jetzt, daß
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ausgerechnet die, die in Sachen Geschlechterverhältnis, Nationalismus, Ökologie und vermutlich noch einigen anderen Themen die deutlich avanciertere und auch kritischere Position vertreten, gleichzeitig diejenigen sind, die sich in Sachen Klassenkampf, Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates und Organisierung der revolutionären Avantgarde (7) von den m.E. weiterhin richtigen Einsichten von Marx und – ich hatte mich ja bereits im ersten Teil als LeninistIn geoutet – Lenin entfernen,
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während die anderen, die an diesen Einsichten merh oder minder festhalten, in Sachen Ökologie, Rassismus, Geschlechterverhältnis so ziemlich alles verschlafen haben. (8)
Die beschriebene Spaltungslinie läßt sich außerhalb der Linkspartei bzw. in der außerparlamentarischen Linken ungefähr anhand folgender Namen festmachen:
Interventionistische Linke (IL) / ...ums Ganze-Bündnis (UG) versus Restbestände des Trotzkismus außerhalb der Linkspartei und der maoistischen und/oder stalinistischen ML-Gruppen.
In etwa zwischen diesen beiden Lagern steht in der außerparlamentarischen Linken das bundesweite Bündnis Perspektive Kommunismus, das bisher aber leider nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie IL und UG erlangte konnte und vermutlich in einigen seiner Mitgliedsgruppen auch nicht ganz state of the revolutionary art ist, was Geschlechterverhältnis, Antinationalismus und Ökologie anbelangt. –
Wie dem auch sei..., ich hielte gar nichts davon, diese Spaltung nun entlang der Linien pro-europäische Neoliberalismus-Mitverwaltung (Tsipras-Linie) versus nationalstaatlicher Anti-Neoliberalismus (LAE-Linie) zu vertiefen. Was wir m.E. benötigen ist eine tatsächlich ernstgemeinte und nicht nur rhetorische – und zwar nicht nur anti-neoliberale, sondern antikapitalistische – Revolutionierung Europas.
Daß dieses Projekt nicht nach dem 20. September und auch nicht in nächsten Monaten handgreiflich werden wird, liegt auf der Hand – aber diese Perspektive geduldig voranzutreiben, sind die »Mühen der Ebene«, die sich m.E. lohnen – und nicht minimalste »soziale Spielräume in dem europäischen Erpresserpaket« als Regierungspartei auszureizen. Diese Spielräume würden sich nämlich mit SYRIZA als Oppositionspartei besser ausreizen lassen, als mit einer SYRIZA, die dieses »Erpresserpaket« implementieren und daher in ihrer Praxis legitimieren muß (welche mentalen Vorbehalte sie auch immer haben mag).
Eine gramscianische Verelendungstheorie?
So, jetzt bin ich aber genug ‚SchiedsrichterIn’, die Noten über verschiedene linke Strömungen verteilt, gewesen, und komme auf den Text von Katja Kipping zurück. Sie schreibt: »Selbst wenn auf das OXI, auf das griechische Nein zur Austerität, kein realer Ausstieg aus der Austerität folgte, so ist sein Wert nicht gering zu schätzen. Das OXI, also der Widerspruch zu dem, was viele Jahre scheinbar widerspruchslos durchgestellt wurde, hat den Konsens in Frage gestellt. Infolgedessen wurde deutlich, dass die Herrschenden stärker auf Zwang setzen. Dies wirkt erst einmal wie eine Verschärfung der Herrschaft. Im Wissen um die Hegemonietheorie hingegen gibt es auch eine optimistischere Deutung: Wenn sich eine Herrschaft weniger auf Konsens stützen kann und stattdessen mehr auf Zwang setzen muss, ist das Ausdruck einer Erschütterung.«
Also, ich weiß nicht – mich überzeugt das nicht. Mir scheint der Satz, »Wenn sich eine Herrschaft weniger auf Konsens stützen kann und stattdessen mehr auf Zwang setzen muss, ist das Ausdruck einer Erschütterung«, so eine Art gramscianisch gewendete Verelendungstheorie zu sein – oder eine gramscianische gewendete vulgär-maoistische Interpretation der Parole des ‚Großen Steuermanns’, daß es nicht schlecht, sondern gut sei, wenn der Feind uns bekämpft (9).
Dieser Spruch des ‚Steuermanns’ ist zwar ähnlich lustig, wie viele seiner anderen Sprüche (weshalb ich ihn auch ziemlich mag, wenn auch nicht ganz so doll wie Lenin) und reflektiert auch in der Tat eine richtige Einsicht:
Wenn (Falls!) linke Kräfte voranschreiten, wird der Abwehrkampf der Herrschenden schärfer – oder, wie es der ‚Steuermann’, in einem seiner anderen Sprüche recht sexistisch ausdrückte: »Wie Revolution ist kein Deckchensticken.« (ich ziehe wegen dieser sexistischen Konnotation im allgemeinen vor, die englische Übersetzung zu zitieren: sie sei keine dinner party [10]).
Aber das erlaubt leider nicht den Umkehrschluß, daß – nur weil die Herrschenden linke Kräfte bekämpfen – diese auch auf dem Vormarsch seien. Zum einen kennen auch die Herrschenden die Einsicht, »Vorsicht ist besser als Nachsicht« (also – aus einer Machtposition heraus – besser zu früh, als zu spät zuschlagen) und vermutlich macht so zu den obersten 5 bis 15 % zu gehören, auch ein bißchen einsam und paranoid – und führt leicht daz,u SYRIZA oder eine ML-Gruppe, die kesse Sprüche klopft, oder eine militant-autonome Szenegruppe, die ein paar Mollis oder sogar Brandsätze bastelt, für eine ernsthafte Gefahr zu halten.
Bitte nicht ins offene Messer laufen!
Also, ich kann den Optimismus des Satzes, »Wenn sich eine Herrschaft weniger auf Konsens stützen kann und stattdessen mehr auf Zwang setzen muss, ist das Ausdruck einer Erschütterung«, wenn er auf Griechenland und die letzten Monate gemünzt wird, nicht teilen.
Mir scheint nicht: ‚Da waren GenossInnen auf dem richtigen Weg und waren mit einem unvermeidlichen Gegenschlag konfrontiert’, sondern mir scheint: Da sind GenossInnen geschlossenen Auges ins offene Messer gelaufen. (11)
Und mir scheint: Tsipras, der in der ersten Reihe stand und steht, hat darauf – gut oder schlecht (ich würde eher sagen: schlecht, aber immerhin) – reagiert. Und die, die in der zweiten Reihe standen, – und das scheint mir das wirklich Verhängnisvolle zu sein – haben das alles gar nicht richtig mitbekommen und sind in Form der LAE-Linie (nationalstaatlich-kapitalistischer Grexit, ohne vorherige Eroberung von Massen-Machtpositionen) gerade dabei, mit noch mehr Schwung in das gleiche, noch blutige Messer zu laufen. – Das Einzige, das sie daran hindern wird, tatsächlich auf dieser Messerspitze zu landen, wird der Weitblick der griechischen WählerInnen sein, sie nicht regieren zu lassen, sondern mit 5 - 10 % der Stimmen abzuspeisen.
Grexit! – Welcher Grexit? / Europa revolutionieren! – Welche Revolution?
Katja Kipping schreibt: »In den linken Debatten um den Grexit fällt auf, dass dieser den strahlenden Nimbus des Radikalen bekommt. Die Unterstellung dabei lautet, wenn SYRIZA sich für den Grexit entschieden hätte, hätten die EU-Eliten sie nicht erpressen können. Das Bedürfnis, auf die Erpressung durch die EU-Institutionen eine andere, radikalere Antwort als den Kompromiss zu finden, teile ich. Zu meinen, der Grexit wäre diese radikalere Antwort, ist hingegen ein Irrtum.«
Und wiederum stimme ich ihr zu: Ein Grexit als solcher ist keine Lösung. Ein nationalstaatlich-linkskeynesianistischer Grexit, wie ihn die LAE vorschlägt (und Teile der Linkspartei für sinnvoll halten), ist eine weitere Illusion.
Insofern stimme ich auch und umso mehr Heino Bergs Beitrag von Montag zu: »Ein Grexit alleine löst nichts« und: »Eine Politik im Interesse der Millionen abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten muss die System- und Eigentumsfrage aufwerfen.«
Nur ist da jeweils ein Punkt, den ich sowohl an der Position von Heino Berg, als auch an der Position von Katja Kipping nicht verstehe (und es ist wirklich ein ernsthaftes Nicht-Verstehen und kein als Dumm-Darstellen):
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Heino Berg unterzeichnet seinen Beitrag zwar mit »ist aktiv in der Göttinger LINKEN und Mitglied des Landessprecherrats der Antikapitalistischen Linken (AKL) in Niedersachsen«. Aber ich denke ich verrate kein Geheimnis, wenn ich erwähne, daß er auch Autor der Webseite der SAV ist, die zu lesen, sich durchaus lohnt (ansonsten wüßte ich es ja nicht). Nun beteiligt sich allerdings aber die griechische Schwesterorganisation der SAV Xekinima an der LAE, die auf der von Heino Berg mit guten Argumenten kritisierten Linie von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine ist. – Warum beteiligt sich Xekinima dann also nicht an ANTARSYA, die tatsächlich die ‚Systemfrage’ aufwirft und dafür einen Grexit in Kauf zu nehmen bereit ist, aber diesen nicht als Lösung ausgibt?
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Die spiegelbildliche Frage ist allerdings auch an Katja Kipping zu richten, wenn sie sagt, »Letztlich muss alles darauf hinauslaufen, Europa zu revolutionieren. Darunter ist es nicht zu machen.«, aber dies in ihrem individuellen Artikel nicht weiter konkretisiert und in ihrer gemeinsamen Presseerklärung mit Bernd Riexinger Alexis Tsipras einen Blankoscheck (»ungebrochenes Vertrauen«) ausstellt. Europa irgendwann einmal (hoffentlich nicht in allzu weiter Ferne) »zu revolutionieren«, heißt doch nicht Memorandum III umzusetzen, sondern sich – in Griechenland – an der mühseligen revolutionären Aufbauarbeit zu beteiligen, die sich ANTARSYA vorgenommen hat, und hieße – in Deutschland – zu überlegen, was hier ein sinnvolles Äquivalent zu ANTARSYA sein könnte.
Das sind die wirklichen »Mühen der Ebene«, auf die Katja Kipping im ersten Absatz ihres Textes (nach dem vermutlich redaktionellen lead) verbal/terminologisch Bezug nimmt, aber die sie danach leider überhaupt nicht konkretisiert.
Mit diesem etwas unbefriedigenden Ergebnis mache ich erst einmal einen weiteren Schnitt und überlege mir in den nächsten Tagen, ob ich mich auch noch der Mühen der Ebenen des letzten Drittels des Textes von Katja Kipping unterziehe und/oder ob ich meinerseits vielleicht etwas Befriedigenderes als dieses unbefriedigende Ergebnis vorzuschlagen habe.
Anmerkungen
(1) Brief von Karl Marx vom 12.04.1871 an Ludwig Kugelmann (MEW 33, 205 = http://theoriealspraxis.blogsport.de/andere/brief-karl-marx-vom-12-04-1871-an-ludwig-kugelmann/) und MEW 17, 338 f. (»Das erste Dekret der Kommune war daher die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.«)
(2) Meine Kritik an der Verrats-These
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in der Variante der internationalen trotzkistischen Organisierung, an der in Deutschland die Gruppe Arbeitermacht (GAM) – die älteren Linkspartei-Mitgliedern vielleicht noch aus der Zeit deren PDS-Entrismus Anfang der 1990er Jahre bekannt ist – beteiligt ist, formulierte ich dort:
Selbstkritik wäre eine Alternative gewesen
http://www.trend.infopartisan.net/trd0715/t360716.html
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in Kritik an einigen Absätzen eines Artikels des linksradikalen Lower Class Magazine dort:
Noch einmal zur Kritik des »Verrats«-Begriffs
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2015/07/13/noch-einmal-zur-kritik-des-verrats-begriffs/
und
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in Kritik einiger Passagen eines – von einem ANTARSYA-Mitglied empfohlen – englischsprachigen Artikels auf der türkischen Seite http://bolsevik.org:
Love Letter to ANTARSYA
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2015/09/07/love-letter-to-antarsya/.
(3) systematisches Abwesendsein; hier: prinzipielle Nicht-Beteiligung an Parlamenten.
(4) »Greeks may witness the first televised general election debate between party leaders for the first time in six years later this month as SYRIZA and New Democracy appear to have reached a tentative agreement. […]. The Communist Party indicated it would not take part in the event, while Golden Dawn demanded that its leader, Nikos Michaloliakos, be invited to the debate. The neo-Nazi party threatened to hold a large protest outside the TV studio if Michaloliakos is not given a place.« (http://www.ekathimerini.com/201100/article/ekathimerini/news/education-u-turn-from-syriza)
(5) http://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/artikel/neuwahlen-in-griechenland/. – Ziemlich kryptisch an der Erklärung ist dieser Satz: »Dass er gestern dennoch seinen Rücktritt erklärt und Neuwahlen für den 20. September ausgerufen hat, zeigt, wie weit die Einmischung der Gläubiger in die nationale Souveränität Griechenlands geht: Unter den erpresserischen Auflagen der Institutionen kann Syriza so ihr Regierungsmandat nicht erfüllen.« – Die Auflage werden doch nicht dadurch verschwinden, daß SYRIZA wiedergewählt wird...
(6) Sehr wohl hätte ich aber etwas davon, wenn Ema.Li, SAV und Proletarische Plattform bei einer deutschen ANTARSYA mitmachen würden – aber das ist jetzt wirklich voluntaristisches Wunschdenken.
(7) Siehe dazu meinen Text: Was spricht eigentlich gegen Lenins Parteitheorie?
http://www.nao-prozess.de/blog/was-spricht-eigentlich-gegen-lenins-parteitheorie/.
(8) Siehe zu diesem Problem bereits den Abschnitt 7.d) »Zum Problem der ökonomischen und politischen Spaltung der Lohnabhängigen« meines Textes aus dem Jahr 2011: Zehn Punkte, über die wir diskutieren sollten http://www.trend.infopartisan.net/trd0611/t030611.html.
(9) »Wenn uns der Feind energisch entgegentritt, uns in den schwärzesten Farben malt und gar nichts bei uns gelten läßt, dann ist das noch besser; denn es zeugt davon, daß wir nicht nur zwischen uns und dem Feind eine klare Trennungslinie gezogen haben, sondern daß unsere Arbeit auch glänzende Erfolge gezeitigt hat.« (http://infopartisan.net/archive/maowerke/Mao_Worte_des_Vorsitzenden.htm) / »It is good if we are attacked by the enemy, since it proves that we have drawn a clear line of demarcation between the enemy and ourselves. It is still better if the enemy attacks us wildly and paints us as utterly black and without a single virtue; it demonstrates that we have not only drawn a clear line of demarcation between the enemy and ourselves but achieved a great deal in our work.« (https://www.marxists.org/reference/archive/mao/selected-works/volume-6/mswv6_32.htm)
(10) »Dinner party« ist schon nicht das englische Übersetzungäquivalent für deutsch »Deckchensticken« – sondern für »Gastmahl«. Auch wenn das Mao-Zitat im allgemeinen sehr verkürzt angeführt wird, so lautet es doch vollständig: »a revolution is not a dinner party, or writing an essay, or painting a picture, or doing embroidery; it cannot be so refined, so leisurely and gentle, so temperate, kind, courteous, restrained and magnanimous« (http://www.marx2mao.com/Mao/HP27.html#c5, p. 28) / »eine Revolution [ist] kein Gastmahl, kein Aufsatzschreiben, kein Bildermalen oder Deckchensticken; sie kann nicht so fein, so gemächlich und zartfühlend, so maßvoll, gesittet, höflich, zurückhaltend und großherzig durchgeführt werden« (http://www.infopartisan.net/archive/maowerke/hunan5.htm, S. 27).
(11) Katja Kipping schreibt: »Die Liste der Putsche gegen linke Regierungen ist bekannt; sie beginnt in Chile 1973 und setzt sich fort zur Politik gegen die französischen Linksregierung unter Mitterand zu Beginn der 1980er Jahren.« Mir scheint, weder hatte sich SYRIZA vor dem Schreiben ihres Wahlprogramms mit diesem Problem, das – wie Katja Kipping zurecht schreibt – »abzusehen« war, beschäftigt; noch scheint sich nunmehr die LAE mit diesem Probleme vor ihrer Entscheidung, zu kandidieren und ein sehr ähnliches Wahlprogramm zu schreiben, beschäftigt zu haben. Statt dessen werden anscheinend alle Anstrengungen darauf gerichtet, die Augen angesichts dieses Problems zuzukneifen.
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