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Atemlos verliebt

Der Pop-Schlager beschwört eine gesellschaftliche Mitte, die es so längst nicht mehr gibt – und stützt dabei ein 
uraltes Liebesideal

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 7 Min.

Mit einem verschmitzten Grinsen sitzt Kristina Bach vor der Kamera. Hinter ihr funkelt und glitzert es ebenso bunt wie künstlich, während sie leutselig in dieser Fernsehdokumentation über »Das Phänomen Schlager« (VOX) von Helene Fischers schmissigem Sound schwärmt: »Das ist ja schon verkappte Marschmusik. Das liebt der Deutsche!« Tatsächlich klingt Fischers Smash-Hit »Atemlos durch die Nacht«, für dessen Text und Musik die hier über teutonische Triebe tratschende Schirmherrin des Deutschen Allergie- und Asthmabundes verantwortlich zeichnet, weniger nach heimeligem Heile-Welt-Gedudel, sondern vielmehr nach etwas, das der Musikkritiker Jens Balzer treffend beschreibt als »musikalisches Potpourri aus christlichem Emocore, retrofuturistischem Roboterpop nach Düsseldorf-Art, ibizenkischem Schranztechno und traditioneller deutscher Stimmungsmusik«.

Angeblich entstand der Song binnen 100 Sekunden: »Die beiden Refrains und der Vers kamen sozusagen wie aus einem Guss«, verriet Bach im vergangenen Herbst exklusiv dem »Mallorca-Magazin«. Eine passende Plattform für dieses offenherzig daherkommende Geständnis. Denn die Verse des eilig produzierten Titels verbalisieren die neoliberale Umkehrung des »Carpe Diem«-Gedankens, wie sie seit Jahren mustergültig am Ballermann umgesetzt wird. Unter dem Motto »YOLO« (»You Only Live Once«, zu Deutsch: »Du lebst nur einmal«) inszenieren sich junge Menschen heute stolz als wilde Rebellen, die ihre Jugendzeit mit möglichst vielen »crazy events« vollzustopfen trachten, um hernach als kreuzbrav-bürgerliche Reihenhausbesitzer ihren Enkelkindern mitteilen zu können, welch verrückte Halbwüchsige sie doch einst waren.

Wer seine juvenile Phase nicht unnötig verdaddeln will, muss dieser Tage saufen bis zum Koma, tanzen bis zum Morgengrauen - und lieben ohne schlechtes Gewissen; eben immerzu erregt, dauerhaft wonnetrunken und permanent atemlos verliebt sein, wie es Helene Fischer mit ihrer Fräuleinwunder-Intonation ihrem ekstatischen Publikum entgegenträllert: »Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei / Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle / Alles, was ich bin, teil’ ich mit Dir / Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich / Komm nimm’ meine Hand und geh’ mit mir!«

Kehrt dann in einer Liebesbeziehung jenseits des wochenendlich kontrollierten Eskalierens schnell der banale Alltag ein, dann ist es bei Fischer stets die Frau, die alle Scharmützel ihres Liebsten erträgt und sogar »auf Scherben tanzt«. In »Ich glaub Dir hundert Lügen« kokettiert das lyrische Ich mit der regressiven Rolle der Frau als den sexuell umtriebigen Macho buchstäblich vergötternde doofe Nuss: »Auf Deine Ehrlichkeit / Da schwörst Du jeden Eid. Wieso auch nicht / Komm’, führ’ mich hinter’s Licht / In einen schönen Traum / Ich glaub’ an Dich.« Ruft in »Die Hölle morgen früh« der verstoßene Ex-Lover mitten in der Nacht an, dann geht sie zögerlich ran, weil ihr »Herz schreit«.

Und hat sie ihren Seelenpeiniger erstmal am Apparat, »zieh’ ich mir schon beim Reden / Alles an, was Dich verführt / Und trag’ den Duft, der Dich heut’ Nacht verzaubern wird«. Ihr ist »die Hölle morgen früh egal / Egal, wie oft ich noch zu Boden knall’ / Für eine Nacht mit Dir allein im Himmel / Mit Dir allein im Himmel / Sterb’ ich noch tausendmal«. Denn, so stellt Fischer heraus, »ich will’s ehrlich und klar / Das ist meine Art zu lieben / Bin nie mit dem Strom getrieben / Ich halt’ sehr viel aus«. Dass in Fischers Versen die Zahl Tausend ähnlich oft vorkommt wie bei ihrer kaum weniger erfolgreichen Kollegin Andrea Berg (»Du hast mich tausendmal belogen«, »Tausendmal hast Du mich berührt und jetzt ist es passiert«), muss sicher nicht zwingend als niederer Appell an den in manch deutschem Volksschoß noch immer fruchtbar schlummernden »Tausendjähriges Reich«-Reflex verstanden werden.

Wie gerade bei Helene Fischer jedoch ein spezifisch neues, ungezwungenes und weltoffenes Deutschsein zelebriert wird, ist augenfällig. Die Ikone am deutschen Pop-Himmel liefert Shows von US-amerikanischem Megastarformat ab und bietet mit ihrer sorgsam abgemischten Musik den durch die neue Unübersichtlichkeit zusehends überforderten Menschen den Soundtrack ihres leeren Lebens. Sie soll, so scheint es, den Leuten zeigen, wie ein postmodernes Dasein eben doch gelingen kann.

Fischer ist die Tochter russlanddeutscher Spätaussiedler - ein Umstand, den die Massenmedien auffallend häufig betonen - und hat es dennoch zum makellos schönen und selbstredend blonden Multitalent ohne Starallüren gebracht. Glaubt man ihrer Marketingabteilung, dann wusste Fischer schon immer, was sie will: Nach ihrer Musicalausbildung ackerte sie sich demnach im Musikbusiness nach oben und avancierte rasch zur durchtrainiertesten und tanzbegabtesten Schlagersängerin des Landes. Wer wissen will, wie sie all das geschafft haben soll, fragt am besten Kristina Bach: »Helene ist sehr diszipliniert, ein richtiger Soldat.«

Das Geheimnis dieses märchenhaften Aufstiegs liegt also in einer cleveren Vermarktung als für den postdemokratischen Zeitgeist ideal modelliertes Geschöpf, das der hässlichen Fratze des autoritären Kapitalismus ein sanftes, ein strahlendes, ein menschliches Antlitz verleiht. In ihrem Duktus der selbstbewussten Powerfrau, die sich ihrer Weiblichkeit und auch den daraus erwachsenden Erwartungen an ihr soziales Rollenverhalten vollends bewusst ist, bedient Helene Fischer die Normalitätssehnsucht vieler orientierungsloser Menschen, denen das ökonomisierte Leben keinen sattelfesten Arbeitsplatz, keine sichere Rente und auch nicht das vereinfachte »Gut gegen Böse«-Spiel des Kalten Krieges lässt.

Ja, es gibt noch nicht einmal mehr in der sexuellen Matrix darüber Gewissheit, dass Hetero gut und Homo böse ist! Während der durch rechtspopulistische Meinungsführer beklagte »Genderwahn« repressive Normalitätsideale hinterfragt, propagiert der neue Schlager den permanenten Ausnahmezustand; und die Menschen finden das toll, weil gerade das sie in ihrem Normalsein bestärkt - einem Normalsein, das es so längst nicht mehr gibt. Fast alle Schlagertexte, die seit einigen Jahren die deutschen Charts stürmen, zeichnen sich durch ihren völlig ironiefrei vorgetragenen Verzicht auf alle Utopie, auf sämtliche Visionen und auf jede Revolte aus.

Auch die Liebeslieder von Andrea Berg erzählen von Enttäuschung, Scheitern und unterdrückter Wut, denen sich nur im Traum entfliehen lässt. Vom Manne verlassen (»Wenn Du jetzt gehst, nimm auch Deine Liebe mit / Nein, ich brauch’ sie nicht / Bin ich auch schwach / Wenn Du jetzt gehst, gib mir meinen Traum zurück«), vom Manne betrogen (»Du hast mir so oft geschworen, dass wir ewig sind / Ein leeres Versprechen, seit ich ihre Briefe find«), vom Manne leidenschaftlich geliebt (»Diese Nacht soll nie enden, sie geht nie vorbei / Ich lieg’ in Deinen Armen, fühl’ mich endlos frei«) - immerzu sind es Geschichten, die mit ehrlichem Impetus die Vielfachkrise auf das Amouröse verlagern und den jubelnd mitsingenden Fans erklären: »Ich mag reich und berühmt sein, fühle aber trotzdem genau wie ihr.«

Unter den vielen Männern, die um die wenigen Plätze im Schlagerhimmel konkurrieren, hat sich zuletzt der selbst ernannte »Volks-Rock’n’Roller« Andreas Gabalier durchgesetzt. Er ist die sexy Variante des rechten Biedermanns vom Schlage eines Thilo Sarrazin oder Bernd Lucke, denen es gelingt, ihre im Mainstream fest verankerten Meinungen als verwegenes Außenseitertum zu tarnen. Gabalier, dessen Markenkern das im österreichischen Akzent vorgetragene Mannsbild-Volkslied mit rasanter Rhythmik ist, hat ein klares Beuteschema: Eine Frau muss »ordentlich Holz vor da Hütt’n« haben und Männer »kommen überhaupt net in Froge«. Außerdem findet er, »Mütter sollten nach der Geburt ihres Kindes net glei’ wieder z’rück in den Job geh’n, sondern ihre Zeit dem Kind schenk’n«.

Mit Blick auf die androgyne Künstlerin Conchita Wurst, die im März dieses Jahres bei einer Veranstaltung mehr Preise einheimste als der nationalsexuelle Muskelmann, klagte dieser voller Neid: »Man hat es nicht leicht auf dieser Welt, wenn man als Manderl noch auf Weiberl steht.« In einem seiner Lieder präsentiert er sich auf meterhohen Stelzen und mit überdimensioniertem Umhang als »Mountain-Man«, der »hart wie Gletschereis« ist und »Dir die Stern’ vom Himmelszelt« holt. Sein Kollege Nick P. singt seiner einzig wahren Liebe etwas vor von einem »Stern, der Deinen Namen trägt / Hoch am Himmelszelt«, der »auch in tausend Jahren« noch dort oben stehe.

Der alte BRD-Schlager begleitete die Menschen zur Nachkriegszeit auf dem Weg in die kurzzeitige Phase wirtschaftlicher Sicherheit und ließ eine zarte Modernisierung der sexuellen Ökonomie zu. Tony Marshall fragte die »Schöne Maid« noch höflich, ob sie »heut’ für mich Zeit« habe. Jürgen Drews’ »Ein Bett im Kornfeld« bejubelte den Beischlaf als luststeigernd, derweil prüde Altnazis die bundesdeutschen Verwaltungen besetzten. Und Udo Jürgens leistete in »Griechischer Wein« oder »Ein ehrenwertes Haus« eine Gesellschaftskritik, die inmitten der RAF-Hysterie schon fast als linksradikal durchging. Erst als der Schlager ins Reaktionäre umschlug durch Interpreten wie Heino, der als Ehrengast des Apartheidregimes in Südafrika die erste Strophe der deutschen Nationalhymne zum Besten gab, verschwand der Schlager in der Schamschublade.

Heute konstruiert der neue deutsche Pop-Schlager ein Gemeinschaftsgefühl, das den nach authentischer Romantik gierenden Menschen das Angebot einer eingängigen sexuellen Kollektividentität unterbreitet. Damit können sie sich träumend im Brackwasser der Beliebigkeit gegen den Strom schwimmend wähnen. Und das, obwohl sie sich tatsächlich treiben lassen müssen vom lauen Lüftchen der mit allen Wassern gewaschenen Merkel-Republik, das den im künstlichen Herzschmerzschlagergewitter segelnden Seelenpartnersuchern beiläufig den Sound der Alternativlosigkeit um die Ohren pfeift.

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