Ein bisschen Leben
Im Kino: »Mord in Pacot« von Raoul Peck
Ganze neun Tage und ein Vorspiel braucht »Mord in Pacot«, um jeden Rest Optimismus über den Gang des Wiederaufbaus von Land und Gesellschaft in Haiti nach dem großen Erdbeben im Keim zu ersticken. Die Einheit des Ortes wahrt der Film sogar noch absoluter als die der Zeit: Hof und Räume einer einzigen, bebengeschädigten Villa in einem grünen Vorort von Port-au-Prince reichen Regisseur Raoul Peck, um den Zusammenbruch des ganzen Landes unumkehrbar wirken zu lassen.
Die Villa gehört einem namenlosen Paar aus der vermögenden Oberschicht, und sie soll demnächst abgerissen werden. Zu tief sind die Risse, zu instabil die Wände, jedes der zahlreichen Nachbeben könnte zum Einstürz führen. Selbst der Teil des Hauses, der sich vielleicht retten ließe, bedarf dringender Reparaturen. Das Paar aber, selbst erst einmal in einem offenen Schuppen im Hof untergekommen, hat die Mittel nicht mehr, die Reparaturen auszuführen. Also besorgt Er (Alex Descas) einen Mieter für die instabilen Zimmer, während Sie (Joy O. Ogunmakin) sich mit dem ungewohnten Haushalt müht.
Es zieht ein: ein wohlmeinender, aber unbedarfter weißer Franzose (Thibault Vinçon), Abgesandter einer der vielen Nicht-Regierungsorganisationen, die als Nothelfer kamen. Was Peck von diesen NGOs und ihren Bemühungen hält, dem mit Erdbeben, Armut und Cholera mehrfach geschlagenen Haiti von außen wieder auf die Beine zu helfen, hat er bereits in einem Dokumentarfilm ausgeführt, der sie in Grund und Boden verdammt: Wer »Tödliche Hilfe« gesehen hat, wird sich das Spenden für Katastrophengebiete in Zukunft gründlich überlegen.
Glaubt man Peck, ist das, was die Hilfsorganisationen treiben, nichts als Selbstbefriedigung. So vernichtend ist das Urteil des Regisseurs (der auch mal Kulturminister seines Landes war) über die internationalen Hilfsgelder, die mit herablassenden Verhaltensmaßregeln, ohne Ortskenntnisse oder lokale Vernetzung über die Köpfe der Betroffenen hinweg - und teils gleich wieder in die Taschen auswärtiger Organisationen hinein - verteilt werden, dass ein NGO-Mitarbeiter auch in diesem Film kaum zum Helden taugen wird.
Die junge Frau aus Haitis Provinz (Lovely Kermonde Fifi), die an des Franzosen Arm mit in die Bruchbude einzieht, will vor allem eins: mit seiner Hilfe weg aus Haiti. Für den Fall, dass der Franzose seine Liebesschwüre doch nicht ernst meint, hält sie sich vorsichtshalber ihren einheimischen Lover warm. Im Unterschied zu ihrem Gönner hat sie auch sofort erkannt, wie gefährlich die vordergründig wiederhergestellte Behausung ist. Aber was wäre schließlich nicht gefährlich in Haiti? Die Party, die sie in ihrer notdürftig abgestützten Unterkunft gibt, während ihr weißer Freund auf Hilfstour geht, ist der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan, kurz bevor jede Ordnung zusammenbricht. Nur dass die Ordnung hier schon längst keine Ordnung mehr ist und der moralische Zusammenbruch lange vor dem physischen und damit lange, lange vor der Party lag.
Was einst individuell eingezäunter Besitzstand einer kleinen Klasse war, ist jetzt plötzlich Allgemeingut - alle Zäune wurden durch das Erdbeben aufgebrochen, wie die Klassenschranken. Nur leider sind die Ruinen des einstigen Wohlstands für die Allgemeinheit zu relativ wenig zu gebrauchen. Jeder sieht auf seine Weise zu, wie er mit den veränderten Umständen umgeht und sich ein bisschen Leben bewahrt. Nicht nach denen zu fragen, die man nicht mehr trifft, das sei jetzt die neue Höflichkeit, sagt der Mann, dem einst die Villa gehörte. Nach dem toten Pflegesohn unter den Ruinen aber gräbt seine Frau.
Und Joseph, ihr früheres Faktotum, unter dessen Matratze sie beim Graben Geld und ein paar Hemden ihres Mannes fand, kommt nur noch einmal vorbei, um sich auf’s Land zu verabschieden. Zu viele Tote in der Stadt, sagt er, und hilft dann doch beim Graben. Am Ende überleben die Reichen, die Einheimischen und die Fremden. Das kostbare importierte Flaschenwasser aber dient nur noch dazu, den Wagen auch schön weiß zu waschen.
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