Triumphschreie und Tanzeinlagen

Die Bühnenfassung von Lutz Seilers »Kruso« in Magdeburg trifft nicht die Tonlage des Romans

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Lutz Seilers 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman gilt auch deshalb als eines der bedeutendsten literarischen Zeugnisse über die Wendezeit, weil darin menschliche Hoffnungen und Sehnsüchte zur Sprache kommen, die weit über die Ereignisse von 1989 hinausweisen. Es ist die Geschichte des Germanistikstudenten Edgar Bendler, der in einem Moment des Verlusts, dem Unfalltod seiner Freundin, zum Aussteiger wird, die Flucht in eine Gegenwelt auf der Insel Hiddensee antritt und dort auf Kruso, den »König der Insel«, trifft, der in der Gaststätte »Klausner« ein Reich der Freiheit ausruft.

Die erfahrene Dramaturgin Dagmar Borrmann hat eine Bühnenfassung hergestellt, die die 580 Seiten des Romans auf gut 50 Textseiten bringt. Dazu hat sie das Figurenensemble eingeschmolzen und ganze Schauplätze wie die Hallenser Universität oder das dänische gerichtsmedizinische Institut gestrichen, in dem Edgar nach den sterblichen Überresten verunglückter DDR-Flüchtlinge sucht. Gestrichen hat sie auch eine Reihe von katastrophalen Ereignissen, die Seiler in überbordender Detailfreude beschreibt - sowie den Kampf Edgars mit seiner Freundin gegen den Massenansturm der Kakerlaken oder die Befreiung des Abwaschbeckens von den fettverklumpten Überresten, dem sogenannten »Lurch«. Zurückgenommen sind auch die vielen surrealen Momente des Romans wie die Gespräche Edgars mit dem Fuchs, der sich wie er als Alleingelassener in der Freiheit empfindet. Um die inneren Widersprüche Edgars dramatisch fassen zu können, hat sie ihm ein Alter Ego, genannt »der Andere«, beigegeben. Erhalten hat die Autorin Seilers Einfall von dem uralten Radioapparat, den die Besatzung liebevoll »Viola« nennt. Der erscheint in Gestalt zweier junger Radioreporterinnen, die in ihrem Bericht nicht nur die Ereignisse von Prag und Ungarn schildern, sondern auch - in Erweiterung des Zeitrahmens - die »Flüchtlingsflut« im Jahre 2015.

Die Regisseurin Cornelia Crombholz war fasziniert von der erzähltechnischen Vielfalt des Romans und hat nach einer dem Roman angemessenen Spielweise gesucht. Dessen ganz eigenen Ton, die Sinnlichkeit und Poesie der entstehenden und scheiternden Figurenbeziehungen allerdings hat sie nicht getroffen. Es ist, als ob die Regisseurin am Text entlanghangelt, immer auf der Suche nach dem spektakulären inszenatorischen Einfall. Das szenische Geschehen pendelt zwischen circensischem Nummernprogramm, märchenhafter Verrätselung, Verschwörungsromantik und schriller Parodie. Schon früh begegnet der Held, genannt Ed, dem Heimleiter Krombach. Der ist nicht der im Roman beschriebene, in Ungnade gefallene höhere Angestellte, sondern ein grell geschminkter Zirkusdirektor, der die Mitarbeiter nach seiner Pfeife tanzen, in Trippelschritten aufmarschieren lässt, und mit wachsender Begeisterung bootsmännische Seilverknüpfungstechniken wie den Palstek vorführt.

Im Folgenden werden die Abläufe des Servierens und des Abwaschens in rasendem Tempo verbunden mit einem sich wiederholenden Stimmengewirr vorgeführt. Das fordernde Schreien wird zum bestimmenden Ton in der Kommunikation zwischen Küche, Gastraum und Abwasch. In der Szene mit der Nachrichtenübermittlung von der ungarischen Grenze wird die Nachricht überlagert vom szenischen Aufwand ihrer Übermittlung. Da gibt es Jubelposen in vielfacher Ausführung, Triumphschreie und Tanzeinlagen. Das Fußballspiel der »Klausner«-Mannschaft wird zum Höhepunkt der inszenatorischen Bebilderungswut. Die Akteure marschieren mit Lendenschurz und im trippelnden Gleichschritt auf, Spielführer Kruso verkündet die Mannschaftsaufstellung wie eine mittelalterliche Schlachtordnung. Zwei weibliche Schiedsrichterinnen schwingen den Ball, angeklebt an langer Stange, die Spieler stürzen sich mit Geschrei auf das Streitobjekt und schweben ihm, entschlossen zum finalen Kopfstoß, in Zeitlupe entgegen.

Gleich mehrere Schlüsse hat die Szene von der Heimholung Krusos durch seinen leiblichen Vater, den General. Da tanzen zunächst Kosakentänzer bewaffnet mit Schwertern und in Folklorekostüm herein, später wird eine große Treppe hereingefahren und Sowjetsoldaten paradieren im Stechschritt. Die Treppe steigt ein offensichtlich zahnloser General herunter, während eine Artistin am Seil schwingt - Anspielung auf Krusos Mutter, die Artistin. Einige Szenen dagegen beweisen, dass in Seilers Text durchaus Situationen und Vorgänge unter Verschluss liegen. Wenn sich Ed und das zur Flucht entschlossene Tresen-Ehepaar begegnen und die beiden ihre Fluchtabsichten verschweigen oder wenn Kruso mit tragischer Vergeblichkeit vom Neuanfang schwärmt, während die Mitarbeiter schon auf gepackten Koffern sitzen, wird auf bedrückende Weise offenbar, dass die Ratten das sinkende Schiff verlassen.

Raphael Kübler spielt diesen Kruso, kann aber der faszinierenden Figur kaum Profil geben und bleibt fast durchgängig auf einem bedeutungsschwer dozierenden Ton. Dadurch bleibt die emotionale Bindung zu Edgar, den Raimund Widra als einen verschlossenen, aber extrem aufnahmewilligen jungen Mann spielt, unglaubhaft. Die aber ist das emotionale Fundament des Romans

Nächste Vorstellung: 3.Oktober

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