»Wir waren diese 
komischen Typen«

Dimitris Bokis ist einfaches SYRIZA-Mitglied auf Kreta. 
Die Krise zwingt seine Familie, mit 1300 Euro über die 
Runden zu kommen. 
Ein Gespräch über den Wahlsieg, Gesetze, die gebrochen 
werden, und den heiligen Geist im kommunistischen Kloster

  • Ulrich Heyden
  • Lesedauer: 9 Min.

Herr Bokis, hat Sie der Erfolg von SYRIZA bei den Wahlen Ende September überrascht?
Dimitris Bokis: Das ist ein Triumph, der die Politologen noch viele Jahre lang beschäftigen wird. Eine Partei, die das dritte Memorandum verwirklichen muss, die es nicht geschafft hat, das Memorandum zu kippen, eine Partei, von der sich ein Teil abgespalten hat, bekam nun fast so viel Prozent wie bei der vorigen Wahl. Es gibt zwei Gründe für diesen Erfolg. Die Griechen wissen, dass wir nichts mit den Konzernen und den Leuten zu tun haben, die über Jahre das System der Korruption aufgebaut haben. Der zweite Grund für unseren Erfolg ist, dass wir Verantwortung gezeigt haben. Und auch dieser Sieg bedeutet für uns eine enorme Verantwortung. Wir sind nachdenklich.

Wissen Sie nicht, was Sie mit diesem Sieg anfangen sollen?
Wir wissen es, aber es ist jetzt eine sehr schwere Arbeit. Wir müssen in den nächsten vier Jahren beweisen, dass wir Griechenland ändern können. Es gab nie eine so starke Linke in Griechenland wie heute mit SYRIZA.

Es gibt noch andere linke Parteien, die auch den Anspruch erheben, Hoffnungen der Bevölkerung auszudrücken.
Die Volkseinheit, die Partei, die sich von uns getrennt hat, ist nicht ins Parlament gekommen. Das ist kein Zufall. Und die Kommunistische Partei KKE kommt nach dieser Krise und diesem Aufstand der Menschen immer noch nicht auf mehr als 5,5 Prozent.

Was ist das Wichtigste, was jetzt geändert werden muss?
Alles. Zunächst einmal müssen wir die »großen Interessen« bekämpfen, also die Oligarchen, die ihr Geld in die Schweiz gebracht haben.

Und wie wollen Sie das machen?
Wir werden einfach die Gesetze anwenden.

Gibt es denn Staatsanwälte, Richter und Polizisten, die diese Gesetze auch durchsetzen werden?
Das ist eine Frage. Meine persönliche Meinung ist: Es braucht eine große Umwandlung. Wir werden sehen, welche Maßnahmen wir ergreifen werden.

Und was werden die griechischen Oligarchen unternehmen, die ihr Geld in der Schweiz haben?
Sie werden alles gegen uns tun. Aber wir haben auch Waffen: Sie müssen jetzt Steuern zahlen. Auch die privaten Fernsehkanäle müssen jetzt endlich Gebühren für die Ausstrahlung zahlen, die sie seit zwanzig Jahren nie bezahlt haben.

Aber was machen Sie, wenn die Vertreter der Gläubiger kommen und sagen, ihr müsst die Ausgaben da und dort kürzen?
Wir werden mit ihnen jetzt aus einer besseren Position verhandeln. Und wir werden ein bisschen warten, bis sich die Verhältnisse in Europa ändern. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Verhältnisse nach unserem Wahlsieg ändern werden. Die Linke wird in verschiedenen Ländern Europas stärker. Die Menschen beginnen zu verstehen, dass es eine Alternative gibt. Natürlich wird es sehr schwierig werden für uns. Wir müssen das Memorandum umsetzen, gleichzeitig müssen wir die schwachen Mitglieder dieser Gesellschaft schützen.

Wie kann das funktionieren?
Wir müssen kämpfen. Ein Beispiel: Es gibt eine Steuer auf Häuser. Das ist eine besonders umstrittene Steuer. Wir hatten versprochen, diese Steuer abzuschaffen, aber nach dem neuen Memorandum können wir das nicht mehr. Wenn die Menschen das nicht bezahlen können, werden sie das nicht bezahlen. So einfach ist das. Gesetze sind dazu da, dass sie gebrochen werden. Das hat schon Bertolt Brecht gesagt.

Und die Regierung wird diese Nichtzahler bestrafen?
Wie kann man die bestrafen? Das sind Leute, die sind arbeitslos oder haben 40 Prozent ihres Einkommens verloren. Und dann sagt dir jemand, weil du von deinen Eltern ein Haus geerbt hast, musst du 1000 Euro zusätzliche Steuern bezahlen. Wie kann man diesen Menschen bestrafen, wenn er das Geld nicht hat? Unsere Hoffnung ist, dass wir Steuern über »gleichwertige Maßnahmen« eintreiben, zum Beispiel durch eine bessere Steuerverwaltung, welche die Reichen, die bisher gar keine Steuern bezahlt haben, zwingt, Steuern zu zahlen. Dadurch können wir dann die Steuern für die Ärmeren mindern. Außerdem muss auch im Einzelhandel stärker kontrolliert werden. Es kommt immer noch vor, dass man für eine gekaufte Ware keine Quittung bekommt.

Viele Griechen erwarten jetzt, dass reiche Steuersünder hinter Gitter wandern.
Die alten Steuergesetze lassen viele Lücken. Sie wurden von den Altparteien PASOK und Nea Dimokratia genau zu dem Zweck gemacht, damit die Reichen nicht zu bezahlen brauchen. Wir brauchen neue Gesetze. Aber das kann dauern.

Was denkt ein einfaches SYRIZA-Mitglied, wenn es liest, Parteichef Alexis Tsipras habe seinen Urlaub auf einer teuren Privatjacht verbracht und seinen Sohn angeblich für 7000 Euro im Jahr in einem Privatkindergarten angemeldet?
Diese teure Jacht war ein kleines Plastikboot eines einfachen SYRIZA-Abgeordneten aus Sfakia auf Kreta. Tsipras ist ein Mann, der ständig etwas zu tun hat. Dass er seinen Sohn in einen Privatkindergarten schickt, empört mich nicht. Ich habe Freunde in einem archäologischen Museum, ganz normale Beamte in Athen, die schicken ihr Kind wegen der ungünstigen Arbeitszeiten auch in einen Privatkindergarten. Schon Lenin sagte: Bei der Eisenbahn müssen wir nicht die erste, sondern die dritte Klasse abschaffen.

Bleibt SYRIZA außerparlamentarisch aktiv?
Wir müssen jetzt beides verbinden. Wir müssen eine Partei des Volkes und der Straße sein und eine Partei der Regierung.

Und hier in Rethymno kämpft SYRIZA auch außerparlamentarisch?
Natürlich, zum Beispiel gibt es eine Initiative gegen die Beschlagnahmung von Häusern. Die Besitzer dieser Häuser können ihre Hypothekenkredite nicht tilgen. Die Beschlagnahmungen werden jeden Mittwoch im Gericht bekannt gegeben. Und jeden Mittwoch gibt es eine Demonstration mit 100 bis 200 Leuten gegen diese Beschlagnahmungen. Wir und andere Organisationen sind immer bei diesen Demonstrationen dabei. Wir haben zusammen mit anderen Organisationen auch für die Flüchtlinge demonstriert. Bei der letzten Demonstration waren 200 bis 300 Menschen.

Und wie hat die Bevölkerung reagiert?
Bis 2012 waren wir »diese komischen Typen«, die gegen alles waren. Man schenkte uns keine besondere Beachtung. Und dann haben wir gesagt, so, wir haben jetzt eine Krise und »diese sonderbaren Typen«, die für die Rechte von Flüchtlingen und Homosexuellen sind, die für eine andere Wirtschaft sind, wir sind »diese Typen«, die ihr kennt, wir wollen eine Regierung bilden, wir wollen euch aus der Krise herausbringen. Und die Leute haben gesagt: »Ok, es gibt nichts anderes. Also ihr, diese sonderbaren Typen, denen wir nicht vertrauen, ihr könnt vielleicht etwas tun.« Die Krise war einfach so schlimm, dass die Menschen uns die Chance gegeben haben.

Wie sieht die Krise für Sie persönlich aus?
Ich habe mir seit fünf Jahren keine neue Klamotten gekauft. Und bevor ich einen Kaffee für zwei Euro trinken will, frage ich mich immer, kann ich mir das diese Woche leisten. In acht von zehn Fällen entscheide ich mich, den Kaffee zu Hause zu trinken. Ich verdiene als Nacht-Rezeptionist in einem Hotel 900 Euro. Das ist für griechische Verhältnisse noch ziemlich viel. Meine Frau verdient in einer Druckerei zwischen 300 und 500 Euro. Ihr Arbeitgeber schuldet ihr seit fünf Jahren um die 5000 Euro an nicht gezahlten Löhnen, für die wir Steuern bezahlt haben. Das Gefühl, wenn man finanziell so beschränkt lebt, kann man nur schwer beschreiben. Die einzige, die nicht von der Krise betroffen ist, ist meine Tochter. Sie ist zehn Jahre alt. Ihr versagen wir nichts.

Was würde passieren, wenn Griechenland aus dem Euro austritt?
Das wäre sehr schlecht. Man muss pragmatisch sein. Wir haben viel gelitten in den letzten Jahren, wir können nicht noch mehr leiden. Unser Ziel muss sein, dass wir Griechenland politisch und wirtschaftlich so bewaffnen, dass wir die Frage eines Austritts überhaupt stellen können. Heute können wir diese Fragen nicht stellen.

Mit der dann möglichen Abwertung der Drachme würden die griechischen Exporte unterstützt.
Mit welcher Produktionsbasis wollen wir denn exportieren? Die landwirtschaftliche Produktion, das ist zu wenig. Da ist auch unter der EU viel zerstört worden. Selbst wenn die Wirtschaftswissenschaftler unserer Partei sagen, ja, wir können uns einen Austritt wirtschaftlich leisten, würde ich nur dafür sein, wenn ich glaube, dass es keine Chance mehr gibt, dass die EU zu den Zielen zurückkehrt, die sie bei ihrer Gründung deklariert hat: soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Wachstum für alle.

Was erwarten Sie vom kommenden Parteitag von SYRIZA?
Eine Hauptfrage, die auf dem Parteitag gestellt werden muss, ist die Frage, wie SYRIZA die Regierung unterstützen kann, ohne zu einer Staatspartei zu werden. Es ist wichtig, dass die Partei eine eigene Rolle haben muss, als Vertreterin eines Teils der Bevölkerung und als Vertreterin einer bestimmten Politik.

Also Distanz zur Regierung?
Es muss eine Distanz, aber auch eine Mitarbeit geben. Das ist das Schwierigste. Die Regierung ist etwas anderes als die Partei. Die Regierung ist etwas Unabhängiges. Aber die Mitglieder der Partei, die in der Regierung sitzen, müssen von der Partei mindestens Konzepte, Meinungen und Politik übernehmen.

Die Regierung soll also nicht völlig losgelöst von der Partei arbeiten?
Die Mitglieder von SYRIZA in der Regierung bleiben Parteimitglieder. Sie sind auf einer Position, wo es gefährlich ist, allein zu sein. Sie müssen von der Partei schon bis zu einem gewissen Punkt kontrolliert werden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Alexis Tsipras. Jeder weiß, was er versucht hat, und jeder erkennt an, was er gemacht hat. Trotzdem: Wir sind keine Ein-Mann-Partei. Wir sind eine linke Partei. Auch der Vorsitzende der Partei muss unter Kontrolle stehen und auf einem Parteitag Rechenschaft ablegen. Ich persönlich werde ihn wieder wählen. Das ist keine Frage. Aber es muss das Gefühl geben, dass niemand über der Partei steht.

Dazu kommt die Frage, was wir jetzt tun werden. Wir müssen etwas verwirklichen, woran wir nicht glauben: das Memorandum. Wir werden es verwirklichen. Aber wir müssen auch wissen, was es an Chancen gibt, Dinge zu ändern, was es für Chancen gibt, das Leben der Leute zu verändern, und wir brauchen auch dringend ein langfristiges Programm für den Wiederaufbau des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Griechenland.

So ein Programm gibt es nicht?
Es gibt so ein Programm. Aber es entstand in einer Zeit, als wir dachten, dass wir das Memorandum loswerden.

Sie waren bis Ende der 1980er Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei, die sehr EU-kritisch war und ist.
Als Mitglied der KKE war ich gegen die Europäische Union. Aber dann haben wir gesagt, die Dinge ändern sich, wir müssen mit der Zeit gehen. Europa kann ein Bund sein für Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Wachstum für alle Staaten. Die Verhandlungen mit der EU aber haben gezeigt, dass es Demokratie in der EU heute nicht mehr gibt.

Und die KKE sagt jetzt: Haben wir euch das nicht gleich gesagt?
Was die KKE sagt? Sie sagt: Wir warten, bis das Volk für den Sozialismus bereit ist. Das ist die Logik von Mönchen. Das kommunistische Kloster erwartet, dass die Bevölkerung den heiligen Geist empfängt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.