Verlaufen

Jonathan Franzens neuer Roman »Unschuld« sieht eine Nähe von Sozialismus und Internet

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Es bleibt dabei - »Die Korrekturen« sind Jonathan Franzens größter Roman. Auch sein jüngster, »Unschuld«, kann diesen Befund nicht korrigieren. Das 800-Seiten-Werk, sein fünfter Roman, besitzt Passagen, die im Gedächtnis bleiben. Doch sie sind nur aufblitzende Einsprengsel. Sie vermögen es nicht, dem Gesamtwerk jene Beglückung zu schenken, die der Leser in einem großen Roman zu finden hofft. Anders als bei Franzens »Korrekturen« oder vor fünf Jahren in »Freiheit«, anders als bei den besten Büchern von amerikanischen Landsleuten wie Roth und Updike, Proulx oder Eugenides, die beim Einstieg einen Sog zum Weiterlesen aufbauen, stellt sich solche Gefangennahme durch »Unschuld« nicht ein.

Woran das liegt? Vor allem daran, dass die Geschichten, die Franzen (Jg. 1959) erzählt, etwas arg Ausgedachtes an sich haben und den Erzählfluss beladen. Die Handlungsstränge, in denen alle Fragen der Zeit angesprochen werden - das Internet als Totalitarismus von heute, Verderbtheit des Kapitalismus, Feminismus, Bilanz der DDR oder Verlust der Privatsphäre, freudlose Geschlechterbeziehungen und Identitätssuche, Profitgier und Zukunftsangst -, diese Stränge werden von Personengruppen in den USA, in Bolivien und der DDR getragen: Von der jungen Pip Tyler aus Oakland, die in Dauerpraktika steckt und weder weiß, wo und wann sie geboren wurde, noch wer ihr Vater ist. Von ihrer lebensunbegabten Mutter (»ein grauhaariges Kind«), die ihre Tochter weder loslassen, noch mit ihr umgehen kann - »Kein Telefonat war komplett, bevor sie einander nicht unglücklich gemacht hatten.« Von ihrem Vater Tom, einem Journalisten, der seiner Frau den Kinderwunsch verwehrt, als Whistleblower arbeitet und in der Wende von einem ihm völlig fremden Ostberliner dessen Geheimnis von einem Mord in Berlin-Rahnsdorf erzählt bekommt. Von idealistischen Frauen, die sektenähnlich für einen anderen Whistleblower, den ostdeutschen Guru der Enthüllungsplattform »Sunlight Project«, in den Bergen Boliviens tätig und für einen Gunstbeweis des Gurus zu vielem bereit sind. Von dem Guru selbst, Andreas Wolf, der vor dem Mauerbau in eine privilegierte SED-Funktionärsehe geboren wurde und Dissident gewesen ist. Der über Jahre Mädchen vernaschte, ehe er im Herbst 1987 auf der elterlichen Datsche einen Stasi-Mitarbeiter mit dem Spaten erschlägt und vergräbt, weil er seine Pflegetochter, von Andreas angebetet, missbraucht hatte. Vom selben Andreas, der 1990 beim bis heute seltsamen Sturm auf die MfS-Zentrale zu erstem und bald darauf als Guru von »Sunlight Project« zu größtem Ruhm gelangt. Unter seinen Fittichen landet Pip Tyler, die als Praktikantin mit Hilfe des Whistleblowers endlich Aufschluss über die Identität ihres Vaters zu gewinnen hofft …

Die Konflikte haben etwas Konstruiertes. Sie wollen auch den geneigten Leser nicht ergreifen. Spannung stellt sich vor allem in den in der DDR angesiedelten Handlungssträngen ein. Hauptsächlich aus zwei Gründen: Franzen, der 2001 für »Die Korrekturen« den National Book Award der USA erhielt, rechnet mit der DDR grundsätzlich ab. Zum anderen, weil Franzen Ähnlichkeiten zwischen der Wirkweise des Realsozialismus und dem neuen Totalitarismus des Internet ausmacht. Das eine wie das andere lasse Betroffenen keine Möglichkeit zu sagen: Geht mich nichts an.

Für Franzen, der findet, dass »wir heute in konformistischeren Zeiten als die 1950er Jahre leben«, war die DDR ein System, »dem man sich nicht entziehen konnte«. Die Republik habe sich »in puncto Überwachung und Paraden gewiss hervorgetan, aber die Essenz ihres Totalitarismus war alltäglicher und subtiler gewesen. Man konnte mit dem System kooperieren oder es ablehnen, aber was überhaupt nicht möglich war, ganz gleich, ob man ein sicheres, angenehmes Leben genoss oder im Gefängnis saß, war, gar nicht mit ihm in Beziehung zu treten. Die Antwort auf jede Frage, ob groß oder klein, hieß Sozialismus. Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke (Hervorhebung im Original - R.O.), hatte man das Internet. Dessen miteinander konkurrierende Plattformen einte der Ehrgeiz, jeden Aspekt deiner Existenz zu definieren.«

Franzen studierte 1982/83 in Westberlin, spricht Deutsch, mag die Bücher von Thomas Brussig und würde einen Zuneigungsvorwurf zu Deutschland kaum bestreiten. Er lässt den mordenden Idealisten Andreas Wolf die Erkenntnis formulieren, dass sich wenige Dinge so gleichen wie eine Revolution der anderen. »Allerdings hatte er auch nur solche Revolutionen miterlebt, die sich lautstark selbst so nannten. Eine seriöse Revolution - die wissenschaftliche zum Beispiel - zeichnete sich dadurch aus, dass sie mit ihrem Revolutionärsein nicht prahlte, sondern sich einfach ereignete. Prahlen mussten nur die Schwachen und Ängstlichen, die Unseriösen. Der Refrain seiner Kindheit unter einem Regime, das vor lauter Schwäche und Ängstlichkeit eine Gefängnismauer um das angeblich von ihm befreite Volk hochzog, lautete, die Republik habe das Glück, Vorreiter der Geschichte zu sein … Dieser lächerliche Widerspruch war fester Bestandteil prahlerischer Revolutionen. Kein Verbrechen oder unvorhergesehener Nebeneffekt wog zu schwer, um von einem System, das zwingend war, aber leicht scheitern konnte, nicht verziehen zu werden.«

Franzen wollte schon lange einen Roman mit deutschem Anteil schreiben. Der »FAZ« sagte er: »Die DDR hat mich seit langem gereizt, das ist einfach ein großes Thema, viel interessanter als etwa das kommunistische Polen, weil es so viel extremer zuging: die Stasi, die Ausmaße der gesammelten Daten, die Zahl derjenigen, die dabei mitgemacht haben - das ist alles extrem. Sehr deutsch.« Franzens DDR-Einlassungen gehören zu den eindringlichen Seiten, voller Reibflächen! Aber sie retten den Roman um das zentrale Thema Idealismus und seine Konsequenzen nicht. Anteil daran hat, dass mit Ausnahme Pip Tylers alle anderen Protagonisten, selbst Andreas Wolf, letztlich blass bleiben. So hinterlässt Franzen ein Buch, das Bedenkenswertes dabei hat, aber Begeisterung nicht entfacht.

Jonathan Franzen: Unschuld. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Rowohlt, 830 S., geb., 26,95 €.

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