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Fatale EU-Architektur aus Deutschland

Für Maximilian Pichl werden Flüchtlinge durch die Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat sozial entwürdigt

  • Maximilian Pichl
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der Großen Koalition eine Asylrechtsverschärfung beschlossen, die glauben lässt, dass die »Boot ist voll«-Rhetorik der 1990er Jahre und die Gegenwart nur wenige Monate auseinanderliegen. Die Länderkammer wird dem Gesetzespaket am Freitag aller Voraussicht nach ebenfalls zustimmen. Flüchtlinge sollen länger in den überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben und mit Sachleistungen abgespeist werden. Schutzsuchende vom Westbalkan werden in gesonderten Lagern untergebracht und strukturell diskriminiert. Geflüchtete, die unter die Dublin-Verordnung fallen oder geduldet sind, sollen künftig nur noch Unterkunft und Ernährung gewährleistet bekommen und ansonsten von den Sozialleistungen ausgeschlossen werden.

Angela Merkels Worte »Asyl kennt keine Obergrenze« sind eine wichtige Klarstellung. Die Kanzlerin macht sich jedoch unglaubwürdig, wenn sie den Hardlinern aus den Unionsparteien freie Hand lässt, die massive Eingriffe in die Rechte von Flüchtlingen fordern. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung folgt die Bundesregierung der Tradition einer auf Abschottung ausgerichteten Flüchtlingspolitik.

Bei der Abschreckungspolitik gibt es eine Kontinuität, gerade auf der europäischen Ebene. Dort waren deutsche Innenminister immer wieder als Law-and-Order-Architekten tätig. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die Anfang der 2000er Jahre unter Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die Dublin-Verordnung maßgeblich vorangetrieben hat, die die Flüchtlingsaufnahme an die europäischen Außengrenzen delegierte. Heute zeigt sich, dass Dublin faktisch nicht funktioniert und Flüchtlinge innerhalb der EU zum Teil menschenrechtswidrigen Zuständen ausgesetzt sind. Diese Politik wird durch die Installierung von Hot-Spots an den EU-Außengrenzen verfestigt, die marginale Verteilung von Flüchtlingen per Quote wird daran nichts ändern. Unter rot-grüner Regierungsverantwortung fiel auch die Entstehung der Grenzagentur Frontex, die Europas Abschottung in der griechischen Ägäis oder vor der nordafrikanischen Küste koordiniert. Und es war Schily, der forderte, Flüchtlingslager in Afrika aufzubauen, damit niemand europäisches, respektive deutsches Territorium, erreichen kann. Dieser Vorschlag wird von seinem Nachfolger Thomas de Maizière (CDU) in der aktuellen Flüchtlingskrise wiederbelebt, nur dass nun die Türkei als wichtigster Partner zur Vermeidung der Weiterwanderung von Geflüchteten gilt. Aus diesem Grund trifft Merkel am Wochenende den türkischen Präsidenten Recep Erdoğan.

Die aktuellen Beschlüsse reihen sich in diese Abschottungspolitik ein. Anstatt Strukturen einer menschenwürdigen Flüchtlingsaufnahme zu schaffen, kommt ein Katalog von Verschärfungen. Neben den Kürzungen von Sozialleistungen steht die Ausweitung der Liste »sicherer Herkunftsländer« ganz oben auf der Agenda. Die Einteilung in »gute« und »schlechte« Flüchtlinge findet seine Fortsetzung. Politiker von SPD und Grünen hatten bereits im vorauseilenden Gehorsam die Zustimmung seitens der Länder signalisiert. Statt Verschärfungen ist ein massiver Ausbau der Aufnahmestrukturen für Flüchtlinge nötig, nicht nur kurzfristig. Der soziale Wohnungsbau muss ausgebaut werden, um bezahlbaren Wohnraum - nicht nur für Flüchtlinge - sicherzustellen. Dass der Bund ab 2019 keine Fördermittel mehr für den sozialen Wohnungsbau bereitstellen kann, zeigt die Kurzsichtigkeit der Bund-Länder-Vereinbarung: Ein noch größerer Unterbringungsstand steht erst noch bevor.

Während der Ausbau von Unterbringungen viel zu spät angegangen worden ist, versuchen Teile der Zivilgesellschaft die dringend nötige Unterstützung für Asylbewerber privat zu stemmen. Das Gesetzespaket fordert aber eine politische Antwort heraus. Praktische Solidarität mit Flüchtlingen muss bedeuten, mit aller Verve gegen die Asylrechtsverschärfungen vorzugehen. Es wird viele Flüchtlinge auf Jahre sozial entwürdigen und entrechten. Wichtig ist ein politischer Kampf gegen den nationalen Parteienkonsens und zugleich eine radikale Aufklärung über die historisch gewachsene Rolle deutscher Regierungen beim Aufbau des EU-Grenzregimes.

Der Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer hat einmal gesagt, das Asylrecht sei nur deswegen häufig wirksam, weil die Menschen die Fähigkeit, sich zu schämen, nicht gänzlich eingebüßt haben. In diesem Sinn ist die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der EU vor allem eine Politik der Schamlosigkeit.

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